Der A’Lhumakrieg – II: Ungewöhnliche Absichten erfordern ungewöhnliche Mittel

April 18, 2016

II: Ungewöhnliche Absichten erfordern ungewöhnliche Mittel.

„Und ich sage dir – er hat ihn damals umgebracht!“

Crear Ataurass Elorm war wütend – so wütend, wie ich ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Immer wieder ging er von einem Ende des Raumes zum anderen, sein Gewand dabei ehrfurchtgebietend hinter sich herziehend.

„Das sind harte Worte – was macht dich da so sicher?“

Ich saß an meinem Tisch, vor mir mein Humpen, daneben seiner. Eigentlich hatten wir uns nur unterhalten wollen – nun das.

„Du weißt es doch selber! – du warst doch dabei!“ Er hielt an und sah mich eindrücklich an. „Zunächst einmal – du weißt, wie sie immer stritten. Du weißt, dass sie sich am liebsten die Kehlen aufgeschnitten hätten!“

„Das ist aber doch kein Beweis…“

„Nein, natürlich nicht – aber an diesem Tag – damals vor so vielen Jahren – als Shaen meinen Vater überzeugte, auf das Meer hinauszufahren – obwohl er wusste, dass ein Sturm kommen würde – das ist bis heute seine Entschuldigung – zu behaupten, das Wetter wäre es gewesen – Schicksal – Eingriff der Götter -“

„Ja! – Ja! – Ich verstehe ja, was du meinst; du meinst also, er hätte sich selbst in Lebensgefahr gebracht, um seinen eigenen Sohn zu töten? – Welchen Sinn soll das denn bitte machen?“ Und zu mir selber sagte ich: So verrückt kann selbst diese Familie nicht sein.

Nun kannte ich Crear bereits seit Jahren, doch verstand ihn trotzdem noch nicht. Meist führte ich es auf die anstrengenden Jahre der Mannwerdung sowie seinen Zorn auf Shaen und den ewig quälenden Verlust des Vaters zurück, doch manchmal schien dies nicht zu reichen. Es machte mir schon allein Sorgen, dass oftmals sein ganzes Leben, Streben und Handeln nur von Hass getrieben schien. Und dann, an anderen Tagen, seinem Großvater gegenüber, verhielt er sich plötzlich wieder gewöhnlich, wie der kleine Enkel von einst.

„Ich weiß – für dich und Asmyllis mag es keinen Sinn ergeben – doch ich weiß, es war so.“

„Und du weißt, dass bloße Anschuldigungen dir nicht viel bringen? Selbst mit Beweisen wäre es schwer – inmerhin ist er der Sohn des Gurass – der nächste Tereanv. Und was bist du? Du kommst nirgends in der Nachfolgereihe dran – also – beruhig‘ dich. Du kannst nichts tun.“

Meine Worte schienen ihn zum Überkochen zu bringen. Mit einem kräftigen Schlag seiner Faust traf er den Schild, welchen ich an die Wand gehängt hatte – und verbeulte ihn.

„Ah – was machst du da? Bringt dir das Befriedigung?“

Mit einem seltsamen Feuer in den Augen sah er mich an. „Ja – das tut es.“ Sodenn setzte er sich wieder mir gegenüber und sah mich auf einmal gelassen an. „Du wolltest mir von Asmyllis erzählen – wann kommt sie wieder?“

„Ah, Crear, wohin gehst du?“

Der Angesprochene blickte Shaen erschrocken an.

„Äh – Großvater – ich… – ich bin gerade auf dem Weg zu Großvater Gurass…“ Crear war es sichtlich unangenehm, seinem Verwandten hier in den Gängen der Burg zu begegnen.

„Ach ja, Vater – schon so alt und trotzdem versucht er noch das Geschick der Familie zu lenken. – Sag, was gefällt dir so bei ihm?“

Crear sah kurz düster zu Boden, dann hinüber zu mir, der ich selber unangenehm überrascht auf dem Balkon des Ganges saß, unfreiwilliger Zeuge dieser Begegnung werdend.

„Nun – er ist ehrlich.“ Sein Blick wurde durchdringend, als er Shaen in die Augen sah. „Er hat nie jemanden ermordet, der mir wichtig war.“

Shaen schien den vorhandenen Seitenhieb nicht zu bemerken; blieb erstaunlich ruhig – wirkte gar nachdenklich.

„Weißt du, als ich in deinem Alter war, hatte ich auch noch einen Großvater, der damals Tereanv war: Noroash. Hat dir dein Großvater je erzählt, wie er meinen Großvater die große Treppe des Eingangssaales hat hinab stolpern lassen? – Natürlich war es für alle bloß ein Unfall…“

Er verfiel in Schweigen, doch Crears Lippen zitterten. Ich kannte diese Art – und plötzlich war Crear verschwunden, seinen eigenen Weg verfolgend.

Nachdem Shaen kurz regungslos verharrt war, wurde er meiner gewahr. „Ah, Kammerherr – wie geht es euch?“ Humpelnd – wie er seit dem Unglück damals immer war – kam er zu mir.

„Herr – danke – gut.“

Und zu allem Überfluss setzte er sich dann auch noch neben mich.

„Ich habe ein paar Dinge mit euch zu bereden. – Mein Vater ist alt und wird nicht mehr lange leben – das wisst ihr. Es wäre klug, bereits für die Zeit danach zu sorgen, wenn ich der neue Tereanv bin. – Was meint ihr?“

Ich fühlte mich unter seinem ruhigen, doch herrischen Blick klein und machtlos. Hatte ich eine andere Wahl als ihm zu gehorchen?

Vielleicht ein Jahr später gab es ein folgenschweres Treffen. All die Zeit über war Crear bemüht gewesen, seinem Großvater aus dem Weg zu gehen. Wann immer er ihm begegnete, versuchte er sich zu beherrschen. Meist hatte er zuviel Angst um aufzubegehren, doch manchmal schimmerte sein Hass in seinen Reden oder Augen hindurch. Auch Shaen konnte das unmöglich entgangen sein. Dieser war stark damit beschäftigt, seine Macht auszubauen. Als ältester Sohn des Gurass stand ihm sowieso der Titel des Tereanv zu, sollte dieser sterben, doch hätte ihn noch der Ehrgeiz seines Bruders Chauss oder eines dessen Söhne in den Weg kommen können. Als die Familie Chauss jedoch von einem Ausflug in den Osten nicht wieder zurückkam, da Banditen sie überfallen hatten, war dieses Problem gelöst. Nun – ich will damit ganz sicher nicht behaupten, dass Shaen dafür verantwortlich war – ganz gewiss nicht, immerhin gab es keine Beweise in der Richtung – doch kam ihm dies gut gelegen. Was ich damals aber immer noch nicht verstand war, wie ihm der Tod des Ataurass hätte helfen können.

Zunächst aber zu besagtem Treffen: Sobald sie von dem Unglück Chauss betreffend erfahren hatte, verfiel die ganze Familie Elorm für eine Woche in Trauer. Bereits nach drei Tagen aber sollte es sich ereignen, dass Shaen seinen Sohn Maereth sowie seinen Enkel Crear einlud, mit ihm am Feuer des kleinen Ostsaales zu trinken und beisammen zu sein. Ich war natürlich nicht eingeladen, sollte aber als Crears Mundschenk werken – und ehrlich gesagt lauschte ich sooft es ging, was dort besprochen wurde. Nachdem sie bereits für eine Stunde über Belanglosigkeiten – Wetter, andere Adlige, Klatsch, Gerüchte, das Verhalten von Shaens Frau, Stadtgeschehen, das Geschehen am Hofe in Barga und so weiter – gesprochen hatten, wagte Maereth endlich die wichtige Frage.

„Jetzt sag schon, Vater – warum wolltest du dich wirklich mit uns treffen?“

Ich sah die Beteiligten zwar nicht, doch hörte ich Shaen seinen Becher abstellen – immer noch klang seine Stimme klar, derweil Maereth etwas lallte. „Ich will mit euch die Dinge besprechen, die da kommen, wenn ich Tereanv bin – Gurass liegt im Sterben. – Jetzt guck nicht so Crear, du weißt das doch ebenso gut wie ich. – Die Kräuterfrauen und Heilmänner sagen, dass sie nichts mehr tun können. Der natürliche Lauf der Welt geht seinen Weg und nimmt ihn mit sich.“

Maereth schien besorgt – aber nicht um Gurass. „Was – hast du dann vor mit uns zu tun?“

Shaens Stimme schwang um in Zorn. „Dummkopf! Ich werde dir schon nichts antun – sonst hätte ich das längst getan! – Nein, du törichter Junge! – Ich brauche euch. Ihr seid die Fähigsten aus der Familie, wenn auch nicht die Schlauesten. – Nein, sagt nichts, hört einfach zu! – Lange genug hat diese Familie, die Familie Elorm, am Rande des Reiches vor sich hingedümpelt. Es ist Zeit, uns endlich zu vergrößern; und zu nehmen, was uns gehören sollte.“

Maereth schien überrascht – wir anderen wussten schon lange um Shaens Ehrgeiz. „Was hast du vor?“

„Uns Land erkämpfen, das andere Familien uns wegschnappten – was sonst?“

Endlich mischte auch Crear sich ein. „Und wir sollen für dich dabei was sein? Feldherren oder Statthalter?“

„Ich werde euch für beides brauchen, meine Kleinen.“

Plötzlich musste ich erschrocken von meinem Horchposten auffahren.

„Was tust du? Lauscht du etwa?“

Lange hatte ich mich nicht mehr so ertappt und peinlich berührt gefühlt.

„Du weißt doch – das tut man nicht.“ Mit einem seltsam belustigt belehrenden Blick sah Caeryss mich an, während sie gleichzeitig einen halben Laib Brot aus dem Brotkorb nahm.

„Essen stehlen gehört sich aber ebensowenig – hab ich zumindest gehört. Und warum sollte eine Köchin das tun?“

Nun grinste sie. „Ich habe nichts gesehen – oder du etwa?“

Was blieb mir anderes übrig als den Kopf zu schütteln?

„Na also – aber sag mal, was gibt es denn so tolles zu belauschen?“ Neugierig schob sie eine Strähne braunen Haares beiseite und machte Anstalten ebenso zu lauschen.

„Das geht dich eigentlich nichts an. – Shaen betrinkt sich mit Maereth und Crear.“

Diese Neuigkeit schien sie zu enttäuschen. „Ah? – naja – sicher interessant – für dich. Nun – weißt du schon, dass Gurass es nicht mehr lange machen wird? – Und auch, dass behauptet wird, unsere Frau Asmyllis sei nach Tarle gegangen, weil sie meint, ihren Bruder dort zu finden? – Hm – nagut, ich seh‘ schon, mit dir macht das heute keinen Spaß – vielleicht geh ich lieber mal zur alten Gouma.“

Sobald sie endlich fort war, konnte ich mich wieder der Aufgabe des Lauschens widmen. Doch kaum wie ich mitbekommen hatte, dass sie sich bereits wieder über anderes unterhielten, da öffnete sich plötzlich die Tür zum Saal und Shaen kam zu mir in die Kammer. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig aufrichten.

„Heda – Kämmerer – wie war der Name? – Ach ja: Doubal. Also – Doubal. Ich werde jetzt in meine Gemächer gehen – sorge doch bitte dafür, dass da drinnen aufgeräumt wird, wenn die beiden fertig sind – und lass mir morgen zeitig genug mein Frühstück bringen, ich werde ausreiten wollen.“

„Ähm – natürlich, Herr.“

Ich hatte kaum Zeit mich zu verbeugen, da war er auch bereits ins Treppenhaus entschwunden. Nun letztlich doch zurück an meinem Horchposten, glaubte ich meinen Ohren nicht mehr trauen zu können.

„Du willst ihn umbringen? – Wieso?“ Crear klang ebenso ungläubig wie ich geklungen hätte.

„Wie er selber sagte, wird er bald Tereanv sein – würde er sein, wenn er weiter lebt. Und ich wäre dann sein Nachfolger. – Aber ich will nicht warten, bis ich alt und schrumplig bin sondern jetzt schon seine Nachfolge antreten! – Und du – du wirst mir helfen!“

Crear war mittlerweile kühler, überlegter geworden. „Warum sollte ich das tun?“

„Du weißt genau, dass ich keine Kinder bekommen kann. Nach mir würde der Titel dann an irgendwen anders aus der Familie fallen. Wenn du mir aber hilfst, mache ich dich zu meinem Sohn -“

„Aber er ist dein Vater – du willst deinen Vater ermorden?“

„Lass das meine Sorge sein – du hasst ihn doch auch – wir alle hassen ihn. Es wäre besser, würde Ataurass noch leben, aber so -“

Er ließ seinen Satz ausklingen, ohne dass ich verstand, worauf er anspielte. Crear dagegen schwieg, bis Maereth fortfuhr. Seine Stimme klang plötzlich dunkel und traurig.

„Weißt du, Crear – ich würde dich auch so zu meinen Nachfolger ernennen. Wen sonst gibt es denn in dieser Familie schon? Gasmys bringt nur Bastarde und Schwachköpfige zur Welt und Asmyllis könnte man sich niemals unzüchtig genug vorstellen. Da bleibst nur du. – Und, mein Lieber – du bist gefährlich. Zu schlau und zu unberechenbar. Bis heute konnte ich nicht feststellen, was du eigentlich anstrebst – außer meinen Vater zu töten. Also wirst du mir helfen.“

Ich hörte auf einmal einen Stuhl über den Boden schaben und dann Crears wütende Worte. „Aus dir spricht bloß der Wein! – Du bist ebenso erbärmlich wie dein Vater!“

Hastige Fußtritte entfernten sich gen anderes Ende der Halle, gefolgt von einem weiteren scharrenden Stuhl und anderen Schritten.

„Crear – warte doch!“

Und damit ward alles ruhig.

Da ich niemanden mehr fand, den ich mit Shaens Frühstück an meiner statt beauftragen konnte, musste ich mich am nächsten Morgen wirklich selber darum kümmern und trug es sogar noch eigenhändig hinauf in seine Gemächer. Ich richtete alles im Esszimmer her wie es sich gehörte, doch fehlte noch der Herr des Hauses. Auf mein Klopfen hin antwortete niemand, so streckte ich vorsichtig meinen Kopf in sein Schlafzimmer – doch Shaen war nicht da. Verwundert ging ich hinab zur Küche, doch wurde von Caeryss aufgehalten.

„Da bist du ja! – Schnell! – Man braucht dich – Gurass ist tot!“

Einen Moment lang war ich zu erschrocken, dann eilte ich zu den Gemächern des alten Tereanv, um dort bereits alle sich zur Zeit in der Burg befindlichen Familienangehörigen vorzufinden. Gurass war tot – tatsächlich tot – nach all diesen Jahren – und die versammelte Familie trauerte – oder tat zumindest so.

Am selben Tag noch wurde Shaen Gurass Elorm zum neuen Tereanv von Lurut ernannt und in der folgenden Nacht Gurass verbrannt, als hätte man Angst, er könne wieder auferstehen. Etwa eine Woche lang ging dann alles seinen gewohnten Gang. Shaen versuchte sich in allen Amtsgeschäften durchzusetzen. Maereth wurde sein vorbestimmter Nachfolger, derweil Crear den Titel eines Heerführers bekam. Gasmys Shaen, der jüngere Sohn, bekam die Grenzmark zugesprochen, die unter Gurass noch Shaen inne hatte. Das lockte natürlich Gerüchte hervor, was er wohl mit Maereth vorhätte.

Und eines Abends, als ich durch die dunklen Gänge der Burg striff, vernahm ich – wieder einmal unwillig – ein Gespräch. Ich holte gerade ein verstaubtes altes Banner für Shaen aus einer Abstellkammer, da kamen im Gang draußen Gestalten an der Tür vorbei. Klar und deutlich vernahm ich da für einen kurzen Augenblick die Stimme der alten Teule, Frau des Shaen und heimliche Herrscherin der Burg.

„… musst es endlich tun, Maereth! Sei kein Feigling!“

Zunächst dachte ich mir nichts dabei, doch am folgenden Tage bekamen diese Worte eine seltsame Schwere, denn am Morgen war die gesamte Burg erneut in Aufruhr: Shaen war tot! Der Mann, der erst seit wenigen Tagen Tereanv gewesen war – war nun selber nicht mehr.

„Was – was ist geschehen?“ Ich war fassungslos, als ich davon hörte.

Caeryss ging es kaum besser. „Ich weiß es nicht – ich fand ihn heute morgen – tot in seinem Bett – er atmete nicht mehr…“

Sie schien den Tränen nahe, warum auch immer, also drang ich nicht weiter in sie. Andere schienen nicht mehr zu wissen, doch trafen mich als Kämmerer einige drohende Aufgaben, so ging ich zu Teule.

„Mein Mann ist tot und du erwartest von mir Gründe für deine Aufgaben zu erfahren? – Ha! – Du bist ein wirklich guter Kämmerer. Ich weiß nicht, woran er gestorben ist – Schwaches Herz? Falsches Essen? Nicht genug Opfer dargebracht? – aber ich will, dass alles vorbereitet wird. Du weißt, dass Maereth nun neuer Tereanv ist, auch wenn sein Vater es nicht lange war, also bereite die Feierlichkeiten vor. Und heute Abend wird mein Gatte verbrannt, wie es Sitte ist – bis dahin haben die Kräuterfrauen und Heiler Zeit genug zu versuchen herauszufinden, woran er starb.“

Nach dem ‚Gespräch‘ mit Teule fühlte ich mich schlecht. Ich hatte den starken Verdacht, dass sie und Maereth am Tode Shaens zumindest mitverantwortlich waren. Dass Maereth später bei seiner Thronbesteigung Crear zu seinem Nachfolger ernannte, machte die Sache für mich kaum besser. Crear, den ich als unschuldigen Jungen gekannt hatte, gehörte nun ebenso zu den Ränkespielen dieser Familie wie alle anderen. Unter den wenigen noch anwesenden Familienmitgliedern entstand schnell misstrauisches Geraune.

„Der kleine Crear einst Tereanv? Na das wird Frau Asmyllis gefallen, sollte sie je wieder heimkehren.“ Caeryss, die neben mir stand, warf mir nach ihren Worten einen bedeutungsvoll spöttischen Blick zu und machte sich von dannen.

Mich beschlichen ungute Gefühle, wenn ich an die Zukunft dieser Stadt – dieser Familie – dachte. Und es schauderte mich, als ich Teule neben ihrem Sohn stehend lächelnd auf die Versammelten blicken sah.


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Der A’Lhumakrieg – I: Die verlorene Tugend der Kindheit.

April 11, 2016

1. Buch

I: Die verlorene Tugend der Kindheit.

An einem schönen Frühjahrstag traf sich ein Teil der Familie Elorm südlich der Stadt Lurut am Telénemeer. Es ist heute nicht mehr bekannt, wer den Vorschlag dazu machte, doch nahm ein ganzer Zweig der Familie daran teil.

Shaen Gurass Elorm war ältester noch lebender Sohn von Gurass Noroash Elorm, dem Herrn von Lurut. Als die Familie im Wald jagen war, zeigte er stolz allen seine Beute.

„Seht was ich hier erlegt habe und versucht mich zu überbieten!“

Ataurass Shaen Elorm, sein jüngster Sohn, hatte den Ehrgeiz seines Vaters nie leiden können.

„Nur weil dir das fetteste und lahmste Tier vor den Pfeil lief bedeutet das nicht, dass du besser bist als wir. Zu siegen ist nicht alles.“

„Oh doch mein Sohn! Sieg, Macht und Kraft sind alles! – Aber das hast du noch nie begriffen.“

Asmyllis Teule Elorm, Tochter des Shaen und Schwester des Ataurass, hatte in der Familie schon immer zwischen den beiden gestanden.

„Das reicht! Es sollte ein schöner Ausflug werden!“

Tatsächlich gehorchten die beiden Männer ihr auch und schwiegen.

Der kleine Crear Ataurass Elorm, Sohn des Ataurass, gab zu dieser Zeit noch wenig auf die Reden aller Beteiligten, war er doch kaum größer denn das von Shaen erlegte Tier. Bezeichnenderweise nahm jedoch kaum jemand in seinen Worten Rücksicht auf den Kleinen, waren sie doch zu sehr mit sich und ihren Gegnern beschäftigt. Crears Amme, genannt Mütterchen Gouma, hielt ihm zu solchen Zeiten oft die Ohren zu, waren solche Reden doch nichts für sein kleines Gemüt.

Auch ich, Eilzen Doubal, war damals mit in diesem Wald an der Küste des Meeres. Meine Aufgabe war es, ein Lasttier zu führen, welches den Karren mit Vorräten zog. Drei solcher Karren und drei solcher Zugführer wie mich gab es; außerdem folgten noch die Knappen des Shaen und Ataurass sowie zwei Adlige aus der Stadt und ein Koch. Die Stimmung zwischen den beiden Streithähnen war bereits seit Tagen gespannt und vermutlich sollte dieser Ausflug sie alle auflockern, ablenken und wieder versöhnen. Doch es kam alles ganz anders und natürlich viel schlimmer.

„Wie lange willst du noch durch diesen Wald schleichen und wehrlose Tiere schlachten?“

Wenn es um seinen Vater ging, hatte Ataurass noch nie gewusst sich milde zu verhalten.

„Wenn es dir hier nicht gefällt, oh Sohn, dann lass uns an das Meer gehen. Wir haben genug erlegt uns ein gutes Mahl zu bereiten.“

Shaen kannte den listigen Weg schon immer besser.

Und auch wenn sich Vater und Sohn nicht immer einig waren, so konnten sie es doch heute: Die ganze Gesellschaft wanderte hinab an die Küste, die dort sandig und trocken war, um endlich etwas zu essen. Aber natürlich sollte es noch Stunden dauern bis alles so weit wäre, weshalb man sich zunächst mit dem mitgebrachten Brot begnügen musste.

„Wie lange hast du eigentlich vor hier zu bleiben? Ich hörte, das Wetter könnte heute schlecht werden.“

Asmyllis mochte zwar die Natur, doch nicht Ausflüge, die nur dem Töten, Fressen und Streiten dienen sollten. Laut wagte sie dies ihrem Vater gegenüber aber nicht zu äußern.

„Ach, das Wetter wird schon halten. – Und wenn nicht; was macht etwas Regen schon? Lasst uns doch endlich feiern! Wir sind hier als Familie und nicht als Vorbild für Lurut!“

Überschwänglich erhob Shaen sich von seinem Platz an der kurzen Tafel, doch so recht wollte niemand seinen Anweisungen folgen. Lediglich der kleine Crear nutzte die Gelegenheit, um durch den Sand zu strollen und nach Muscheln zu suchen. Mütterchen Gouma hielt ein wachsames Auge über ihn, doch sah er nicht aus, als wollte er etwas schlimmes anstellen.

„Wie geht es eigentlich Großvater? Seit meiner Rückkehr habe ich ihn noch nicht wieder gesehen.“

Sechs Monde war Ataurass im Land unterwegs gewesen um mit anderen Adligen zu sprechen und alte Bündnisse zu wahren.

„Ach – viel zu gut.“

Es war bekannt, dass Shaen seinen Vater, den damals fast schon greisen Gurass, ebenso wenig mochte wie sein eigener Sohn ihn. Manche Zungen wagten gar zu munkeln, dass Gurass dem Ehrgeiz des Sohnes zu stark im Wege stände.

„Du kennst ihn doch – Er wird niemals aufhören zu arbeiten. – Übrigens meinte er, dich bald sprechen zu wollen.“

Asmyllis versuchte oft mit Worten und einem schnellen Lächeln die Äußerungen ihres Vaters zu überspielen.

„Trauert er immer noch um Großmutter?“

Das bedrückte Schweigen, welches Ataurass selbst aus Richtung seines Vaters antwortete, schien keine weiteren Fragen oder Antworten zu verlangen. Kurz darauf versuchte dieser auch schon weiterzumachen wie zuvor.

„Asmyllis – deine Mutter braucht Hilfe. – Sie sagt es zwar nicht, aber sieh einmal nach ihr.“

Während das Gespräch so fortging, wurde ich dazu beordert Feuerholz zu sammeln. Es erwies sich nicht als sonderlich schwer, war der Wald doch nah, aber als ich zurückkehrte hatte sich alles verändert. Shaen hatte sich wieder einmal von seinem Stuhl erhoben, diesmal aber um hitzig mit seinem Sohn zu sprechen. Dieser schien kaum weniger aufgebracht, doch hatte sich besser im Griff. Verwirrt fragte ich Gouma, was denn nun schon wieder geschehen war.

„Mmh! – du kennst die beiden doch. Nehmen jeden noch so kleinen Anlass sich zu streiten. – Ich weiß schon gar nicht mehr… worum es diesmal ging. – Eines Tages werden sie sich noch umbringen. – Mmh!“

Am Tisch schienen Vater und Sohn sich bereits wieder beruhigt zu haben – zumindest waren sie leiser und saßen beide wieder. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich sodann eine Bewegung – und schon kam der kleine Crear zum Tisch gelaufen. Den Streit schien er – wie sooft – nicht bemerkt zu haben. Freudig erregt stand er da mitten zwischen Vater und Großvater und zeigte ersterem stolz etwas. Ich konnte nicht erkennen was es war, doch schon erhob Shaen auch wieder seine Stimme.

„Heda! – Koch! – Wie lange wird es wohl noch dauern?“

Dieser war erschrocken angesprochen zu werden und dementsprechend ungenau war seine Schätzung, als sein Hirn sich in die dunkelsten Ecken verkroch.

„Vielleicht… – Etwa zwei Stunden!“

Shaen grunzte seltsam zufrieden, um sich dann an die gesamte Tischgesellschaft zu wenden.

„Dieses Kind hier -“ Er deutete auf Crear. „- hat mich auf eine großartige Idee gebracht. Um die Zeit zu vertreiben – und um unser Mahl ansprechend zu bereichern – fordere ich dich -“ Er deutete auf Ataurass. „- meinen Sohn, heraus. Wer von uns beiden wird wohl die meisten frischen Muscheln aus dem Meer sammeln können?“

Der Angesprochene zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen, doch die Adligen schienen begeistert. Unter diesem Druck gab es nur eine Antwort für Ataurass.

„Du bist alt und wirst verlieren. – Ich nehme an!“

Während die Adligen ihm freudig zu prosteten, sah Asmyllis eher besorgt zwischen Bruder und Vater hin und her. Shaen aber stand da wie ein zu allem bereiter Wettkämpfer. Zurückblickend vermag ich nicht zu sagen, ob er dieses Stück geplant und geübt hatte – oder nicht. Auch Crear sah abwechselnd seine beiden männlichen Vorbilder an. Er schien nicht zu verstehen, was kommen sollte, doch steckte die gespannte Stimmung auch ihn an und wandelte sich – in Vorfreude.

Shaen, Ataurass, Asmyllis, die Adligen sowie zwei Knechte machten sich auf den Weg, hinab ans Meer. Ich verblieb mit Crear, Gouma und dem Koch beim Essen, doch sah ich immerhin noch, was geschah. Das Telénemeer war A’Lhumas einzige große Wasserfläche und Lurut nicht weit entfernt. Viele Schiffe und Boote hatten wir auf dem Blau bereits erblickt, doch waren nun plötzlich alle langsam wieder verschwunden. Ein kleines Fischerboot aber befand sich in Rufweite. Ich sah Shaen ihm zurufen; es herbei ordern. Als es am Strand angelegt hatte, wechselten der Fischer und Shaen ein paar Worte, woraufhin Asmyllis nachdrücklich aufbegehrte – doch ihr Bruder hielt sie ab; stieg mit seinem Vater und einem der Adligen in das Boot und ließ sich von dem Fischer hinaus auf das Meer fahren, wo wir sie bald aus den Augen verloren.

Und wenige Zeit darauf zog der Sturm auf.

„Schnell! – In den Wald!“

Der Koch wusste plötzlich Befehle zu geben, doch hatte er auch Recht. In nicht einmal einer Stunde war aus zuvor bloßen Wolken ein tosender, grollender Sturm geworden. Über dem Meer zuckten Blitze und die Wellen erhoben sich um krachend gegen den Strand zu branden. Uns an Land wurde heftiger Regen um die Ohren gepeitscht; innerhalb weniger Augenblicke waren wir nass. Mütterchen Gouma hatte nicht erst den Befehl des Kochs abgewartet, sondern versteckte bereits Crear unter ihrem Mantel um sogleich in den Wald zu flüchten.

„Aber Vater und Ataurass – !“

Asmyllis schien den Regen kaum zu bemerken; immer wieder blickte sie wild suchend auf das Meer hinaus, doch dort etwas zu finden war unmöglich.

„Frau – kommt mit uns; schnell! – Wir können jetzt nichts tun!“

Doch erst als ich sie am Arm packte und hinter mir herzuzerren versuchte, kam sie freiwillig.

Alles war in wilder Aufregung. Die Tiere waren vernünftigerweise bereits ohne uns durchgebrannt und hatten ihre Karren zurückgelassen; derweil wir alle eiligst dem Koch und Mütterchen Gouma folgten.

Der Wald schaffte es das Tosen abzuschwächen, doch trotzdem hatten wir einige grauenvolle Augenblicke vor uns, in denen ein jeder um sein Leben fürchtete. Die Natur erwies sich an diesem Tag stärker als wir, die wir nichts ausrichten konnten. Crear hielt uns bald mit seinem Heulen ebenso beschäftigt wie der Sturm, derweil Asmyllis dies alles kaum zu bemerken schien; immer wieder sah sie besorgt hinaus auf die See. Jene war finster und wütend und ich vermochte keine Hoffnung für die beiden Ausgefahrenen zu verspüren.

Nach einer unbekannten Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, doch wesentlich kürzer hatte sein müssen, hörte der Sturm so plötzlich auf, wie er gekommen war. Und als die Sonne die Wolken durchbrach konnten wir hinter uns einen Regenbogen ausmachen. Nach kurzer Zeit schon wirkte auch das Meer friedlich wie zuvor, doch von Schiffen war nirgendwo eine Spur. Immerhin war es ruhiger geworden; auch Crear weinte nicht mehr.

Endlich erwachte auch Asmyllis aus ihrer Starre.

„Los, kommt! – Vater! – Ataurass!“

Nachdem sie losgerannt war, sollte ich der erste sein, der ihr folgte, doch bald darauf kam die gesamte Gesellschaft. Die Tische an der Küste standen erstaunlicherweise noch; die Stühle hatte es umgeweht, das Feuer war ertrunken und Tücher und Nahrung feucht. Von unseren Lasttieren gab es keine Spur mehr, lediglich das erlegte Wild fand sich noch. Am Strand zappelten Fische, die es an Land gespült hatte und alles dort war voll von Wasserpflanzen, doch von dem Boot und seiner Besatzung fehlte jede Spur.

Als endlich alle angekommen waren, wandte sich Asmyllis an sie, ihr Gesicht gezeichnet von getriebener Besorgnis.

„Worauf wartet ihr? Sucht den Strand ab – schnell!“

Sie selber schien ins Wasser waten zu wollen, doch Gouma hielt sie ab.

„Frau – bleibt bei uns; jemand muss auf Crear aufpassen.“

Wir suchten in zwei Gruppen den Strand ab: Ich ging mit dem Koch gen Norden, auf die Stadt zu, derweil der verbliebene Adlige samt den Knechten sich den südlichen Strand vornahmen. Fast eine Stunde verbrachten wir mit der Suche, achteten auf Strand und See. Mehr als einmal meinten wir Holzstücke oder Körper zu entdecken, doch stets entpuppte es sich als etwas anderes. Nach zahllosen Steinen, treibenden Algen, Fischen und Ästen schienen wir weit genug gegangen zu sein und kehrten um; vielleicht hätten die anderen mehr Glück gehabt.

Zurück beim Festplatz erfuhren wir von Mütterchen Gouma, dass die anderen tatsächlich etwas gefunden hatten.

„Oh, es ist so schrecklich – schrecklich! – die armen Herren.“

Wenig später kehrte die andere Gruppe zurück. Sie hatten Asmyllis und einen Karren nach ihrer ersten Rückkehr mitgenommen und erschienen nun wie ein Trauerzug. Die Knechte zogen und schoben den Karren, derweil die anderen düster blickend nebenher schritten. Auf dem Karren gebettet lag ein bewusstloser Shaen. Die Stiefel fehlten ihm, Hose und Hemd waren halb zerfetzt und in Haar und Bart hatten sich Seefarne verfangen. Er wirkte wie eine Gestalt aus einem Märchen – oder wie ein Schiffbrüchiger.

Wir betteten ihn auf feuchten Tüchern neben dem erloschenen Feuer, das zu entzünden uns aber nicht mehr möglich war, in der Hoffnung, er möge dennoch rasch erwachen und uns mehr über den Verbleib der anderen mitteilen. Doch dem war nicht so.

Als es drohte dunkel zu werden, mussten wir abbrechen und wenigstens ihn heimbringen, bevor er vor Kälte erkranken könnte.

„Oh Ataurass – wo bist du?

Mit Tränen in den Augen starrte Asmyllis hinaus auf die See. Es war mir unangenehm, sie unterbrechen zu müssen.

„Frau – ihr könnt hier nichts tun; ihr erkältet euch nur. Lasst uns in die Stadt zurückkehren – und sofort Reiter und Schiffe entsenden, die nach ihm suchen.“

„Hm – vielleicht hast du Recht.“

Offensichtlich schweren Herzens entschloss sie sich, meinem Vorschlag zu folgen.

Vor Lurut angelangt, waren die Haupttore bereits verschlossen, doch ließ man uns natürlich durch die kleinen Tore ein. Asmyllis befahl den Wachen sofort, Reiter und Erkundungsboote aussenden zu lassen – doch musste zunächst ein Hauptmann gefunden werden, der diese Befehle auch ausführen durfte.

In der Burg wurde Shaen in seine Gemächer gebracht, eingewickelt in frische Tücher und umhegt von Kräuterfrauen. Mehr sollte ich nicht mehr sehen, war mir der Zutritt in diese Gemächer doch verboten.

Am nächsten Tag kam Asmyllis hinunter in die Ställe, wo ich Dienst hatte. Als sie gerade eines ihrer Tiere satteln ließ, wagte ich sie anzusprechen.

„Frau Asmyllis – wie geht es eurem Vater?“

Es schien eine Weile zu dauern, bis sie mich erkannte.

„Eilzen – mm – wie es ihm geht… – recht gut – er muss sich nur ausruhen.“

„Das freut mich. – Und gibt es Neues von.. eurem Bruder?“

Ihr Blick versteinerte sich, als hätte sie keine Kraft für Gefühle mehr.

„Es ist noch keiner der Sucher zurückgekommen. Deshalb werd‘ ich jetzt selber los.“

„Ich mache mir vor allem um Crear Sorgen -“

„Eilzen – bitte passe auf Vater auf. Seine Schwäche könnte von seinen Gegnern genutzt werden, vor allem von Chauss. Dort kannst du auch gleich nach Crear sehen.“

Ohne meine Antwort abzuwarten, machte sie sich auf den Weg. Nun war ich also Teil der Ränkepläne dieser Familie, was mir gar nicht recht gefallen mochte. Doch kam ich meiner Verpflichtung gegenüber Asmyllis nach und begab mich bald zu Shaen. Endlich war er wieder zu sich gekommen; saß bereits aufrecht im Bett und aß seine erste Mahlzeit seit einem Tag. Leider aber war er nicht alleine: Chauss Gurass, sein jüngerer Bruder, sowie Maereth Shaen, sein ältester Sohn, waren bereits zugegen.

„Was willst du, Diener?“

Chauss, so vermutete ich, war nicht gut gelaunt. Da sein Bruder immer noch am Leben war, hatte sich keine bessere Möglichkeit für ihn ergeben den Thron zu erreichen, sollte Gurass einst sterben.

„Herren – die Frau Asmyllis schickt mich – zu sehen, ob es dem Herrn Shaen gut geht – und ihm zu Diensten zu sein, sollte er Wünsche haben. – Herr.!“

Eiligst und mich sehr unwohl fühlend verbeugte ich mich vor Shaens Bett. Dessen Stimme war bereits wieder die alte: stark und streng.

„Diener – wie heißt du?“

„Eilzen Doubal, mein Herr.“

„Eilzen – hat meine Tochter die Torheit begangen nach ihrem Bruder zu suchen? – sprich!“

„Äh – Herr… – kurz bevor ich hier zu euch kam ritt sie los, die Küste abzusuchen.“

„Welch törichtes Mädchen – sie wird keinen Erfolg haben – Ataurass wurde über Bord gespült – das Boot traf ihn am Kopf – niemals wird er das überlebt haben.“

„Das ist – schrecklich…“

Später saß ich mit Mütterchen Gouma und Crear in dessen Zimmer, wo er spielen sollte doch sich weigerte. Stattdessen kam er zu mir, als ich am Ort eintraf.

„Wo ist mein Vater?“

Ich war sprachlos.

Gouma hatte ich es zu verdanken, dass ich es ihm zumindest irgendwie erklären konnte. Mit Fünfzehn hatte ich noch keine große Erfahrung, Todesnachrichten zu überbringen. Dies sollte sich in den folgenden Jahren aber noch grundlegend ändern. Doch zunächst lernte ich was es hieß, ein verletztes, weinendes Kind beruhigen zu müssen. Und es sollte alles nur noch schlimmer kommen.


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Der A’Lhumakrieg – Prolog

Dezember 1, 2015

Prolog

Crear Ataurass Elorm ist tot. Für die einen war es ein Segen – für wenige ein Unglück. Bis heute ist es schwer zu entscheiden, zu welcher Gruppe man sich rechnen sollte.

Mein Name ist Eilzen Doubal. Ich war sein Diener, engster Vertrauter und – Freund. Jahre schon ist es her, dass Crear Elorm verstarb, und bisher hüllte ich mich stets in Schweigen. Nun, da alle ihn nur noch als das Böse betrachten, ist es Zeit für mich, alles zu erzählen, wie es wirklich war – wie ich es aus nächster Nähe erlebte. Dieses Buch soll alle Geschichten, alle Legenden, ins rechte Licht rücken oder ergänzen. Deshalb ist es nicht nur für das Volk von A’Lhuma, sondern für die ganze Welt gedacht. Und bei einer solchen Aufgabe muss man daran denken, dass nicht alle die Geschichte von A’Lhuma kennen werden, ja einige vielleicht nie von uns hörten. Darum lasst mich zunächst einige Worte zu unserem Reich verlieren.

Vor etwa 5000 Jahren erschienen unsere Vorfahren in diesem Teil der Welt um sich hier niederzulassen. Das Reich von Harite wurde groß und mächtig, doch die Streitigkeiten mit seinen südlichen Nachbarn Darite wirkten sich aus bis in unsere Zeit. Später stand es – mit Ausnahme von Barga, seiner Hauptstadt – unter völliger Herrschaft durch Luvaun. Dieses war für seine meisterlichen Bauwerke berühmt, was auch uns zugute kam; noch heute werden die Kanäle benutzt. Als Luvauns Gegner aber, das Reich von Lurruken, Barga in seinem Freiheitskampf unterstütze, waren die goldenen Zeiten bald vorbei und das Reich Haret entstand.

Padrun, die heutige Hauptstadt unseres Nachbarn Panmein, war damals die Hauptstadt. Da in Barga aber ein Großteil des alten Adels verblieb, befand sich das Reich bald nach einem gewaltigen Bürgerkrieg in Trümmern. Für viele Jahrhunderte blieben rund um den großen Strom des Haregez bloß kleine Reichem, die sich gerne bekämpften. Im Norden setzte sich schließlich Padrun durch und formte sein Panmein; im Süden kam die Familie Sacaeran in Barga an die Macht und Sacaluma ward geboren. Diese Familie war es einst auch, die unser Lurut gründeten. Lange Zeit blieben diese beiden Reiche – Panmein und Sacaluma – Gegner. – Bis Crear kam. Doch lange zuvor schon wurde dem Reich Sacaluma geweissagt, dass es dereinst einen wichtigen Teil eines großen Krieges spielen würde. Ob dieser nun stattgefunden hat oder noch kommen wird, werde ich wohl nicht mehr erleben.

A’Lhuma heute – oder auch bis vor wenigen Jahren Sacaluma – ist ein Gemisch verschiedenster Völkerschaften, so sollte es nicht wundern, dass es eines Tages größeren Streit zwischen diesen gab. 3940, vor 40 Jahren, herrschte über Sacaluma noch die Familie Sacaeran in Barga. Es war das Jahr, in dem in Lurut ein ganz besonderer Junge geboren wurde. Lurut liegt im Westen des Landes und ist Sitz der Familie Elorm. Dieses Kind war Crear Ataurass Elorm.

Ich weiß nicht, wann genau mein Freund Crear den Verstand verloren hat. Als Kind wirkte er so unschuldig, so anständig, so – gewöhnlich. Doch ist sicher, dass der Tod des Vaters ihn hart traf.


Endlos Schwarz und Weiß

November 17, 2013

Jeder neue Tag, jeder neue Frage: Wann mag es zu Ende sein?
Das Aufstehen. das nicht-aufstehen-wollen. Das Niedersinken und weiterschlafen. Tabletten nehmen. Zum schlafen?
Den Tag ziehen lassen.
Die Mittagssonne neigt sich dem Ende.
Vielleicht doch mal aufstehen.
Schwindel, Übelkeit, der Wunsch nach dem Strick.
Wartet ein Termin? Folgt man ihm?
Mit dem Schal ins Bett, weg mit dem Gefühl.
Aufstehen an den PC, Nachrichten warten.
Den Kopf an die Wand, das Gesicht ins Kissen. Weinend.
Die Arbeit vollenden, stolz auf vollbrachtes.
Eine Tablette nur noch, weiter vergessen.
Raus aus dem Haus, Freude über den Weg. Nimm nicht jeden so wichtig.
Warum meldet sich niemand? Ist man wirklich so egal?
Durch die Menschenmenge, der Ärger gibt Kraft. Weg mit euch.
Verzweifelt den Kopf an die Scheibe, so allein.
Da, jemand neues. Was mag es wohl sein?
Was willst du? Warum gehst du nicht? Wunsch allein zu sein.
Froh über Gesellschaft. Wie lange wohl noch?
Nein, niemals allein. Alles, nur das nicht. Verzweiflung.
Ablenkung ist immer gut.
Langeweile, nach Hause ins Bett? Verkriechen für immer?
Spaß zu beobachten. Schön ist es hier.
Der Weg hinab ist lang. Ein Sprung vielleicht?
Die Wand anmalen. Austoben. Aufräumen. Sport und Aktivität. Musizieren und tanzen.
Betäubung des Gefühls. Doch gelingt es nicht.
Schlag mit dem Stab. Weinend in der Ecke.
Liebe. Hoffnung. Zärtlichkeit. Geborgenheit.
Schmerz. Verzweiflung. Angst. Einsamkeit.
Schreiben. Verlieren. Träumen. Erfinden.
Keine Lust. Keine Idee. Keine Kraft. Zuviele Gedanken.
Jeder neue Tag, jeder neue Frage: Wann mag es zu Ende sein?
Spät bis in die Nacht. Nicht schlafen zu müssen. Drogen so nah.
Oder doch die Tabletten, schlafen für immer?
Was soll man tun. Was ist richtig. Was wünscht man sich?
Fort mit dem Bösen. Leicht oder schwer? Angst vor dem Leichten. Keine Kraft für das schwere.
Leere.
Endlose Wiederholung.
Endlos Schwarz & Weiß.
Wo ist die Mitte?


Die Alphabet-Spielzeuge

November 10, 2013

Und A war unzufrieden mit B.
Und A traf C.
Und A wurde das Spielzeug von C.
Und A und C verliebten sich.
Und A wurde unzufrieden mit C.
Und A traf D.
Und A wurde das Spielzeug von D.
Und C war verletzt.
Und C traf E.
Und C wurde das Spielzeug von E.
Und A wollte zurück zu C.
Und E verließ C.
Und C war verletzt.
Und A wurde das Spielzeug von C.
Und A und C verliebten sich.
Und A verließ B.
Und B war verletzt.
Und A und C stritten sich.
Und A verließ C.
Und A wurde das Spielzeug von D.
Und C war verletzt.
Und C erkannte, dass es nicht mehr spielen will.
Und A sprach, ich will auch nicht mehr spielen.


Nächtliche Gedanken (aus dem Leben eines Schriftstellers)

Oktober 27, 2013

Die Axt wog schwer in seiner Hand. Sanft strich er ihr über den Kopf, wie über ein zartes Tier. Schwer lag sie in seinem Schoß; die Axt, sein einziger Freund. Die ewig Kühle, die Massive, die Reale.

All die Hirngespinste, all die Furcht, all die Trauer. Die Einsamkeit, die Zweifel, die Frage nach dem Sinn des Ganzen und nach Aussicht auf Erfolg. Eine Absage nach der anderen, nie ein gutes Wort. Wozu das Ganze eigentlich?

Doch die Axt, sein Freund, könnt all dies beenden. Hart und kalt spürte er ihre Schneide auf seinem Gesicht. Die Schläge prasselten hernieder, das Blut fing an zu spritzen, die Knochen barsten.

Er öffnete die Augen, legte die Axt beiseite und nahm sein Buch wieder auf. Der Zwang weiter zu schreiben herrschte seit Tagen, seit Wochen. Mit jeder verstrichenen Minute wurde es schwerer. Und sein Hirn blieb leer.

Die Hand wanderte erneut zur Axt. Wie ihre Schärfe doch alles würde beenden können. Wie würde sich das wohl anfühlen?

Er wusste nicht wie, doch es geschah etwas. Bevor er sich versah, hatte er wieder Stift und Buch in der Hand. Er las die bereits verfassten, nun wartenden Sätze. Wie würde es weitergehen? Und dann war es da. Die Wörter füllten die Zeilen, die Seiten.

Und alles wurde egal. Was auch immer jetzt geschehen würde, er war glücklich.


GaU08 Nach dem Unglück

Oktober 20, 2013

I.

Bert war der Name des Insassen, so das Schild neben den Gitterstäben. Irgendwie passend. Benno stierte durch die Schlitze. Drinnen, in einem kleinen ungemütlichen Verschlag ohne Einrichtung, stand der Gefangene stumm und starr. Es schien fast, als wartete er auf etwas. Selten einmal benutzte Bert auch seine Gliedmaßen für einen kleinen Spaziergang, an dessen Ende er meist immer wieder an dieselbe Stelle der Wand lief – und dies solange wiederholte, bis man ihn davon abhielt. Danach war er still bis es Stunden später wieder anfing. Und er war nicht der einzige; fast jeder ihrer Gäste hier verhielt sich so.

Aber gut, dachte Benno bei sich, wenn man aussah wie ein wandelnder Unfall und auch nach dem roch, was man war – mehrere Wochen altes totes Fleisch – war es vielleicht nur vernünftig, sich frühzeitig den Schädel einzurennen. Einem war es sogar mal gelungen, so ihren Fängen zu entkommen. Seitdem galt es die kleinen Stinker stetig zu bewachen. Warum man sie nicht einfach festband, konnte Benno nicht verstehen. Auch wusste niemand, warum sie sich überhaupt so verhielten. Wirkliche Vernunft jedenfalls schienen sie nicht zu besitzen; keiner ihrer zahllosen Versuche hatte in der Hinsicht je Ergebnisse gebracht. Also galt es eigentlich nur herauszufinden, warum sie so waren und wie man sie bekämpfen oder verwerten könne.

Ihm, Benno, missfiel es gründlich, ständig auf das Pack aufpassen zu müssen. Wenn sie nicht gerade gegen die Wände liefen – stets gen Norden – waren die Insassen nämlich äußerst langweilig. In Gefangenschaft waren sie seltsam harmloser denn in freier Wildbahn. Bert beobachten machte ihm kaum noch Freude. Dann und wann nahm er in solchen Momenten einen Stab und stocherte nach den Gefangenen oder schmiss einen Stein auf sie – ohne dafür aber auch nur ein Zucken zu bekommen.

Nun stand er genau vor den Stäben; dem einzigen, das ihn von dem wandelnden Toten trennte; spürte nicht einmal Angst, nur – Abscheu und – Langeweile. Versuchsweise streckte er seinen Arm durch die Stäbe – und zuckte sofort erschrocken zurück; so stark, dass er sich den Arm prellte.

„Hör endlich auf sie ständig zu ärgern – sonst ärgern sie eines Tages zurück!“

Mit dem Gesichtsausdruck eines ertappten Jungen drehte er sich eilends um. Musste Anna immer so überraschend kommen? Irgendwann brächte sie ihn noch dazu, auch zu den Vermodernden zu gehören.

„Ich löse dich hier ab – du sollst mal ins Labor – da kannst du weniger anstellen.“

Benno gehorchte nur und murmelte eine Verfluchung, als er den Zellentrakt verließ.

 

II.

Die Einöde stank. Wo er auch hinsah, erblickte Benno nur endlos scheinende Felder. Eigentlich war er ja bloß eine Stunde Weg von der Stadt entfernt, doch erschien es ihm wie eine andere Welt. Wo sollte sich hier, im Nirgendwo, schon ein sich nicht setzen, nicht hinlegen, nur stets weiter stumpf vor sich hin wandeln könnender Toter schon verstecken? Benno war kurz vorm Verzweifeln – doch er suchte ja auch erst eine Stunde. Zum Glück war Bert bei Sonnenaufgang ausgebrochen, so hatte Benno nun den ganzen Tag Zeit nach ihm zu suchen.

Annas Worte geistig wiederholend brach er in Selbstmitleid aus. Warum er? Es war nicht seine Schuld! Auch er hatte menschliche Bedürfnisse, auch er musste mal austreten dürfen. Der Rest erschien ihm sowieso schleierhaft. Wie hatte der alte Bert sich befreien und unerkannt durch den Keller zum Hinterausgang gelangen können? Dies schien unmöglich ohne fremde Hilfe, doch der Anschuldigung es gewesen zu sein verwehrte sich Benno natürlich. Immerhin aber war niemand zu Schaden gekommen, niemand verletzt worden – sah man einmal davon ab, dass Bennos Würde durch diese Strafe mehr als geknickt war. Wenigstens hatte man ihm einen Schockstab mitgegeben, den er nun gut als Wanderstab nutzen konnte. So gewappnet spazierte er weiter gen Norden, immer wieder nach Bert Ausschau haltend.

Mit der Zeit fragte er sich, ob er wohl irgendwo, irgendwann irgendwas zu essen finden würde, das nicht auch schon bereits von Bert angeknabbert wäre. Doch er wusste genausogut wie alle anderen, dass hier draußen keine Menschen mehr lebten, seit die Unfälle und die damit verbundenen Heimsuchungen durch Tote geschehen waren. Ein riesiges Gebiet, dass leer und wüst dalag, obwohl schon lange alle Auferstandenen erlegt oder gefangen genommen wurden. Und dies soll einst ein Freizeitparadies gewesen sein?

Nach etwa einer weiteren Stunde veränderte sich die Landschaft endlich. Unermüdlich war Benno den schleifenden Spuren des Wandelnden gefolgt, die sich schnurgerade durch die Öde zogen und hatte als Abwechslung bloß seine Gedanken, die sich wunderten, wie solch ein langsames Geschöpf trotzdem solch einen Vorsprung haben konnte. Und dann tauchten allmählich am Wegesrand vereinzelte Baumgruppen auf und plötzlich stand er inmitten der Ruinen.

Einst muss dies eine kleine Stadt gewesen sein; nun war sie nur noch Schutt und Staub. Vereinzelt ragten Überreste auf – Mauerteile; selten bildeten sie noch vier Wände, wenige hatten mehr als ein Stockwerk und keines ein Dach. Es gab jedoch genug Möglichkeiten, sich hier zu verstecken, selbst wenn man es nicht wirklich versuchte – oder es versuchen konnte. Der Ort  schien nach einem großen Feuer aufgegeben worden zu sein, vermutlich zu der Zeit als sich die Toten erhoben. Trotzdem erkannte Benno hier und da Knochenteile in den Trümmern aufragen, die nicht so alt wirkten. Ob sich in der Zeit zwischen damals und seinem Auftauchen wohl nochmal jemand hierher verirrt hatte? Möglich wäre es, da zwar das gesamte Gebiet umzäunt, doch nur stellenweise bewacht war. Niemand würde sich die Mühe machen Menschen, die sich freiwillig in Gefahr begaben, von ihrem Schicksal abzuhalten und die Wandelnden könnten die Zäune niemals erklimmen.

In diese Gedanken versunken bemerkte er die Bewegung am Ende der Straße erst spät – etwas torkelte und schlurfte dort langsam vor sich hin. Konnte es sein? – Ja, endlich hatte er Bert entdeckt; er trug sogar immer noch seine Gefängnis-Kleidung. Hastig verschwand Benno zwischen den Überresten eines Hauses und lugte zum offenen Fenster hinaus, doch der Tote schien ihn nicht bemerkt zu haben. Nun, da er ihn gefunden hatte, sollte es seine Aufgabe sein, den Flüchtigen mit dem Schockstab zu betäuben, festzusetzen und die anderen zu benachrichtigen, dass sie ihn abholen mögen. Doch fangen sollte er ihn allein; das war Teil der Strafe.

Vorsichtig folgte er Bert durch die Ruinen soweit es ging, derweil dieser über die Hauptstraße wankte. Als es keine andere Wahl mehr gab, wollte er es wagen: den Schutz verlassen, sich nähern, zuschlagen. Doch gerade als er einen Fuß ins Freie setzen wollte, erschien aus einer Seitenstraße ein weiterer Wandelnder. – Und da, auf der Hauptstraße, aus der Richtung aus der Benno gerade gekommen war: noch einer. Auch aus anderen Richtungen erschienen welche, so dass letztlich fünf Gestalten Bert gen Norden folgten, alle stumm, doch alle gleich widerlich anzusehen. Benno überlegte was zu tun sei und entschloss sich zu folgen.

 

III.

Der Weg der Toten führte sie einmal durch die Stadt gen Norden. Benno versuchte so gut es ging Schritt zu halten und zu folgen ohne dabei selbst erblickt zu werden, was sich als überraschend schwierig erwies. Zwar achteten die Verfolgten nicht auf ihre Umgebung, wanderten nur stets still weiter, entweder Bert folgend oder zumindest dieselbe Richtung einschlagend, doch kamen immer weitere hinzu. Mehr als einmal erschrak Benno selbst halb zu Tode, als aus irgendeiner Seitenstraße ein neuer stiller Tod erschien und sich der Herde anschloss. Wann immer er nicht um seine Gesundheit fürchtete, fragte Benno sich, wo diese wohl hinstreben mochten. Was gab es da im Norden, dass sie alle so anzog?

Mittlerweile war ihm auch aufgefallen, dass er die Größe des Ortes unterschätzt hatte, denn immer noch durchschritten sie Ruinen und die Häuser schienen zu wachsen. Dann plötzlich erreichten sie ein gewaltiges Gebäude mit angeschlossener riesiger Halle: ein Bahnhof. Auch dieser wies überall Spuren des Verfalls auf, doch lange nicht so stark wie der Rest der Stadt. Aus allen Himmelsrichtungen sah er die Verwesenden kommen und über einen großen Platz durch die Haupttore des Gebäudes strömen; doch die meisten kamen aus Süden.

Fast zwei Stunden musste er in Deckung warten, bis endlich auch der letzte Strom abbrach; dann wagte er es. Sich die Treppe zum Bahnhofstor hochschleichend verfluchte er sich selbst für seine Tollkühnheit, doch da war es schon zu spät und er im Gebäude. Dort hatte er gerade noch Zeit sich ein Versteck zwischen zwei Pfeilern zu suchen, als es begann.

Die Toten hatten sich im Halbkreis in der Haupthalle versammelt und verharrten still, da kamen weitere aus Richtung der Gleishallen. Diese sahen anders aus; älter und verfallener. Vielen fehlten Gliedmaßen, einige konnten kaum noch richtig gehen. Diese alle, still wie der Rest, kamen vor den Halbkreis und verharrten da. Und dann plötzlich stürzten sich die Versammelten langsam, doch gewiss auf die Alten; zehrten von ihnen; erlösten sie.

Bennos aber wurde schlecht. Er blieb in seinem Versteck, bis das Festmahl beendet war, die jungen Toten Überreste mit hinaus in die Stadt zerrten und verschwanden. Erst nach einer langen Zeit wagte er die Heimkehr; er hätte viel zu berichten.

 

ENDE


GaU07 Ein Deutscher in Amerika

Oktober 13, 2013

Dies ist mein letzter Tag auf Erden. Bald werden sie mich holen. Mein Leben habe ich verwirkt – und nur, weil ich Freunde in Amerika besuchen wollte und nicht genug über dieses Land wusste. Ich weiß nicht, wer dies einst lesen sollte, doch will ich die Wahrheit erzählen, die man mir hier gestohlen hat. Ich hoffe, diese Schilderung wird heim gebracht, damit der Staat von den Vorgängen hier erfährt.

Es ist schon sonderbar – obwohl Amerika und Europa bereits eine Weile als Ameropa vereint sind, wurde die Trennung eigentlich nur noch schlimmer. Doch glücklicherweise scheint das System nicht überall durch, hat nicht alle Lebenslagen durchdrungen: Ich besaß Freunde in Amerika, wie soviele bei uns; Freunde, die mir jetzt nicht mehr helfen können. Vor wenigen Monaten schrieb mir mein alter Freund James, den ich einst zu Studienzeiten daheim in Deutschland kennengelernt hatte, als die Grenzen noch nicht so verwickelt waren, ob ich ihn und seine Familie nicht einmal besuchen kommen möchte. Der Zeitpunkt war gut gewählt, wusste er doch, dass mein Studium nun vorbei war und ich Zeit zu überbrücken hatte, bis der Staat mir Heim und Arbeit zuweisen würde.

Ich war viel zu unwissend, dies war mein Verderben. Die Reisepapiere zu bekommen war bereits eine große Anstrengung. Vermutlich wäre es besser gewesen, hätte man mir die Ausreise nicht erlaubt. Doch letztlich bewilligten sowohl der Staat als auch Amerika diese. Freunde zu besuchen sei ja kein Vergehen, hieß es da noch scherzend von einem Beamten. Ich war sehr gespannt, wie Amerika jenseits der Nachrichtensperren aussah. Und dann ging alles sehr schnell. Seitdem die Fernreisemittel in staatlicher Hand sind, verläuft zumindest das Reisen zügig. Vor zwei Wochen kam ich hier in Los Angeles an. – In der Stadt Los Angeles, auf deren Gebiet ich mich befinde – und doch wieder nicht.

James ließ mich freundlicherweise vom Flughafen abholen und zu sich bringen. Der Flug zu ihm verwehrte mir jegliche Ansicht der Stadt, die mich hätte warnen können. Seine Familie besitzt eine eigenständige Villa, hoch oben auf dem Grün einer der Stadttürme. Der Flug dort hinauf und die Aussicht von oben behagten mir gar nicht, schon immer hatte ich Höhenangst. Kaum, dass James mich begrüßte, erklärte er mir auch schon die Umstände. Dass seine Familie reich war wusste ich ja bereits, doch nicht, wie sie lebten: so hoch oben auf einem Turm. Seit Los Angeles jedoch ebenso wie andere Gebiete des Landes teilweise an zahlreiche kleinere private Staaten verkauft worden war, musste man zur Landnutzung im restlichen Gebiet immer weiter in die Höhe bauen. Ich hätte damals besser auf die weiteren Schilderungen der amerikanischen Verhältnisse achten sollen – doch wenige Tage später bekam ich sie am eigenen Leibe zu spüren. Diesen Tag meiner Ankunft will ich jedoch als letzten schönen Tag meines Lebens behalten. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte er mich seiner Familie vor: Emma, seiner Frau, sowie seinen Geschwistern Dorothy und Virgil, die beide noch mit im Haus der Familie wohnten. Oh Dorothy, verzeih mir diese Qual, in die ich dich stürzte!

Den ersten Tag ließ James mir noch zur Umgewöhnung, am zweiten zeigte er mir den Stadtturm, am dritten gab es eine große Feier seiner Familie und Freunde. Der Anlass schien ausgerechnet die Entscheidung Amerikas zum Beitritt in den asiatischen Krieg zu sein. – Und auch wenn James mehrmals beteuerte, dass er nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stelle, fühlte ich mich dennoch betrogen. An diesem Abend war allerlei hohes Getier anwesend und trank und redete feuchtfröhlich miteinand. Während ich anfangs es noch bevorzugte abseits zu stehen, führte mich später Dorothy hinaus auf den Dachgarten des Turmes, zwischen all den anderen Villen hindurch bis zu einer der Begrenzungen, von denen man Stadt und Land betrachten konnte. Im Dunkel wirkte es freundlicher als einen Tag darauf. Dorothy und ich unterhielten uns gut an diesem Abend; wir verstanden uns! – Dorothy, wie gerne hätte ich dich mit in meine Heimat genommen.

Am nächsten Morgen dann lud James uns ein, eine Fahrt durch die Stadt zu unternehmen. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich hätte abgelehnt. Zu Viert machten wir uns auf den Weg: James am Steuer, Virgil daneben, ich mit Dorothy auf der Rückbank. Emma bevorzugte es daheim zu bleiben. – Welch weise Entscheidung. Zunächst einmal hatten wir von der Villa herab durch den Turm in die Straßen zu kommen, bestand James doch darauf ein altmodisches Auto zu nehmen. Glücklicherweise ersparte da der Lastenaufzug uns eine lange Fahrt. Und kaum waren wir in den Straßen, erwartete mich eine böse Überraschung. Viel hatte ich über den Wandel Amerikas der letzten Jahre gehört, fast alles tat ich als Gerücht ab, ließ das Land doch kaum Neuigkeiten selber ins Ausland strömen – und auf nichts dort draußen war ich wahrhaftig vorbereitet.

So kam es dann, dass ich staunend allerlei Fragen stellte, während wir durch die engen Häuserschluchten fuhren. Tatsächlich gehören die meisten Teile der Stadt verschiedenen Privatstaaten. Wie James mir – erneut – erklärte, besteht Amerika nur noch aus einer Handvoll größerer Staaten. Das ganze restliche Land, welches kaum einen Bruchteil des Ganzen ausmacht, müssen sich die Privatstaaten teilen. Natürlich gibt es hierbei mehr Nachfrage denn Angebot, so dass sich die Preise schnell erhöhten. Um dennoch zum Zuge zu kommen entschlossen einige Nachfrager sich zusammenzutun. Dies ist die Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass wir einige Stadt- und Landteile durchfuhren, in denen sich zu einer festgesetzten Uhrzeit plötzlich die Flaggen änderten: Der Besitzer der Stunde war nun dran. Das wieder führt zu teils seltsamen Begebenheiten, denn oftmals wechseln auch ganze Gesetzessysteme mit den Besitzern. Wo in einem Moment das freie Paradies liegt, kann im nächsten schon ein Arbeiterstaat hocken. Dass dabei Länder, die ihren Bewohnern zu ungastlich waren einer regen Einwohnerflucht unterworfen sind, dürfte klar sein. Und so erwarteten uns immer wieder inmitten der gewaltigen Türme, die einem der großen Länder angehören, langweilige, leere betonierte Plätze, düstere Schutthügel sowie auch selten Gärten zum Anbau anderswo verbotener Pflanzen. Auch die Grenzübergänge wechseln von Mal zu Mal, lediglich die Stadttürme sind durchgängig von klotzigen Festungen abgesichert. An diesen bemerkt man auch immer wieder die steigende Kriegsbereitschaft Amerikas. Die Privatstaaten dagegen führen ihre eigenen Grenzübergänge. Von locker ungesicherten bis hin zu streng bewachten Grenzen findet sich im Schatten der gewaltigen Stadttürme alles. Und dann kamen wir in die VLT.

James beteuerte später immer wieder, nicht gewusst zu haben wo er uns da hinführte, dass es ein unglücklicher Zufall sei, dass wir gerade zu dieser Stunde dort ankamen. Und tatsächlich hielten uns unterwegs einige Staus und Sperren auf, so dass wir vielleicht wirklich nur etwas zu spät ankamen. Tatsache ist aber, dass wir mitten in die Grenzuntersuchungen der VLT gerieten und dies einer der größten Fehler ist, die man begehen kann. Wir waren schon zuvor oft in Kontrollen gekommen, doch keine war so schlimm wie diese. Vor uns stand eine lange Reihe von Wagen, die alle das Gebiet der VLT durchqueren wollten. – Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur eines davon hierzubleiben gedachte.

Nur langsam ging es vorwärts. Stets musste ein Wagen halten; wurde sorgsam überprüft. Wir anderen hatten derweil zu warten, was mir anfangs noch egal war, während mich die Unruhe meiner Mitfahrer bloß wunderte. Dann aber kam ein Wagen an die Reihe, dessen Stellung in der Schlange vor uns die Dritte war. Ich weiß nicht, was geschehen war; weiß nicht, welcher Verbrechen dieser Wagen schuldig war – doch mit Entsetzten erblickte ich, wie der Fahrer aus seiner Maschine gezogen und ihm mit einem kurzen schnellen Ruck einer kräftigen Maschine Kopf samt Rückgrat herausgerissen wurde.

Ab da wollte ich nur noch fliehen. So auch die anderen, doch James sprach, dass das unser Tod sein würde, also hielten wir aus. Wir sollten einfach wie brave Bürger wirken – leichter gesagt denn getan. Ängstlich betrachtete ich die Soldaten, die zu beiden Seiten der Straße Stellung bezogen hatten, und beugte mich James‘ Urteil. Dorothy hielt meine Hand, um mich zu beruhigen. Und dann war es soweit – wir waren an der Reihe. Zwei Soldaten überprüften unseren Wagen derweil links von uns an der Hinrichtungsmaschine die Überreste einiger unglücklicher Fahrer baumelten. Als wir weiterfahren durften, durchfuhr mich gewaltige Erleichterung, doch ertrug ich den Anblick der Toten nicht und schloss die Augen. – Plötzlich wurde unser Wagen angehalten – und alles weitere, an das ich mich noch erinnere, war Schwärze. Ich wurde aus dem Wagen gezogen und niedergeschlagen.

Am nächsten Tag erwachte ich in dieser ungastlichen Zelle, in welcher ich nun immer noch bin. Auf meine Fragen was geschehen sei, was ich denn verbrochen hätte, wurde mir keine Antwort erteilt. Man sagte mir bloß, die Anhörung sei in neun Tagen. In diesen verbliebenen neun Tagen wurden immerhin James und Dorothy je einmal zu mir durchgelassen. James versprach mir jegliche Hilfe, doch sei der Fall wohl aussichtslos; die VLT war nicht dafür bekannt ihre Opfer zu begnadigen. Immerhin aber konnte er mich über mein Verbrechen aufklären: In der VLT sei es Gesetz, den Plakaten einer bestimmten Popikone, Herrscherin dieses Landes, bei jedem Vorbeifahren höchste Achtung zu zollen. Ich aber hatte meine Augen geschlossen gehalten. Dorothy dagegen gab mir vor allem Stärke. Wenngleich wir nicht körperlich beieinander sein konnten, gab sie mir doch in einer Stunde Gespräch alles, was mich zum Leben anspornen kann. Ach Dorothy, könnten wir doch nur von hier fliehen.

Heute sind die neun Tage vergangen; der Tag der Anhörung ist gekommen; gleich werden sie mich holen. James erzählte mir, dass die VLT nur eine Strafe kenne: die Todesstrafe. Diese würden sie auch oft und ohne Zögern sofort nach Verurteilung einsetzen. Das werden also meine letzten Worte sein. Auf dass Dorothy sie wie versprochen wird hinausschmuggeln und veröffentlichen können.

Ich höre Schritte – ich habe Angst.

Dieser Text wurde vor einer Woche diesem Wortlaut folgend in einer Untergrundzeitung abgedruckt. Wir haben ihn hier aufgegriffen, um Gerüchte zu beseitigen. Am Tag als diese Worte geschrieben wurden, kam es tatsächlich zu einer Anhörung der VLT, bei welcher der Verfasser jedoch freigesprochen wurde. In seiner Freude vergaß er die beschriebenen Blätter in seiner Zelle. Während er mit seiner Geliebten abreiste und heimkehrte, fand jemand uns noch unbekanntes diese Blätter und ließ sie veröffentlichen. Wem immer es jetzt also erscheinen mag, dass Amerika ein grausamer Staat ist: Der Autor ist gesund und lebt glücklich mit seiner Gebliebten unter uns hier in Deutschland. Unser geliebter Staat griff über die Grenzen hinweg ein und befreite sie aus der VLT.

Dagegen sind keine der Lügen des Untergrundes war.

 

 

 

ENDE


GaU06 In einer Sommernacht (in Hannover)

Oktober 6, 2013

Keuchend drückte sich Anton in die feuchte dunkle Ecke zwischen zwei Pfeilern des Gebäudes. Sofort hielt er den Atem an. – Nicht auffallen! Und tatsächlich: Wenige Sekunden darauf kam ein Mann in der Straße an. Anton vernahm seine Schritte, sein Zögern, seinen schweren Atem – und schon lief der Mann weiter – genau an ihm vor-bei, doch bemerkte er nichts von ihm.
Endlich konnte Anton aufatmen, als die Schritte wieder verklungen waren. Er musste weg, bevor sie ihn doch noch fänden. Wieviel Zeit wohl noch war? Ein Blick auf sei-ne Uhr offenbarte ihm: gut 15 Minuten. Genug Zeit um vom Bahnhof zum Kröpcke zu gelangen – eigentlich. Denn er wusste nicht, wieviele Männer noch hier draußen im nächtlichen Hannover nach ihm suchen würden, doch es waren sicherlich genug, ihm das Leben zu erschweren.
Vorsichtig blickte er aus seinem Versteck hervor. Niemand war zu sehen – niemand. Seit dem Verhängen von Ausgangsperren war es ungesetzlich, um diese Zeit noch draußen unterwegs zu sein. Das bot ihm Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil war, dass auch Kameras sowie die Einheiten von Armee und Stadtwache gegen ihn wären. Daraus ergab sich aber auch der Vorteil, dass seine Verfolger ihnen ebenso aus dem Weg gehen mussten. Doch irgendwie waren sie auch bereits den Kameras des Bahnhofs entschlüpft – kein gutes Zeichen. Ein Teil von Antons Bewusstsein grübelte über die Frage, wie ihnen dies wohl gelungen sei. Der Großteil jedoch war vollauf mit der Aufgabe zu überleben beschäftigt.
Schräg gegenüber, auf dem weiten offenen Platz, erkannte er das alte Reiterbildnis. Soweit er wusste, überwachte es diesen gesamten Vorhof der Verdammnis. Zeit den Platz großflächig zu umgehen hatte er aber keine mehr; seine 15 Minuten liefen ihm bereits davon. Während er sich bereit machte, überlegte ein Teil von ihm, welchen Weg er zu nehmen hätte. – Und schon war er unterwegs. Geduckt huschte er im Schatten der niedrigen Mauer vor gen Norden und von dort zu den kärglichen Bäumen der kleinen Parkanlagen, immer darauf bedacht, etwas zwischen sich und dem Denkmal zu haben.
Und dann kam der Panzer der Stadtwache um die Ecke.
Gemächlich fuhr er durch die Nacht, der Straße nach Süden folgend. – Während An-ton nach Westen wollte, in die Innenstadt. Die Zeit lief ihm weiter davon, derweil die Kriegsmaschine langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Er konnte unmöglich war-ten, bis sie verschwunden wäre; das wurde ihm schnell klar: Ihre Fahrt würde mehre-re Minuten kosten. Also brauchte er einen anderen Weg – und einen solchen sah er einfach nicht. Es bot sich bloß eine Möglichkeit. Kurz fragte Anton sich, ob sich jemand bei einem Scheitern seinerseits jemals über den Wagemut, den er gleich an den Tag legen würde, wundern oder ihn gar dafür preisen würde. Doch kaum war der Ge-danke gekommen, da verschwand er auch schon wieder – Anton musste all seine Aufmerksamkeit anderem schenken.
Um Zeit zu sparen hatte er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür entschieden, hinter dem Fahrzeug die Straße zu überqueren. An einer Stelle knapp vor der Unterführung standen auf beiden Seiten der Straße Bäume eng an eben dieser – eng genug, dass der Panzer dort kurz keine Sicht nach hinten hätte – zumindest hoffte Anton dies.
Und letztlich schaffte er es die Aufgabe zu meistern, zugleich außerhalb des Blickfeldes sowohl des Denkmals als auch des Fahrzeuges zu bleiben. Kaum hatten er und das Fahrzeug die Bäume erreicht, da ließ Anton sich in die Hocke nieder und bewegte sich in dieser Stellung so schnell es ging auf die andere Straßenseite. Drüben ruhte er sich für wenige Augenblicke aus – nichts war geschehen. Kein Alarm, keine Fahrtunterbrechung des Panzers – er hatte es geschafft. Doch wirkliches Ausruhen durfte es nicht geben – er musste weiter; man würde nicht auf ihn warten.
Auf der anderen Seite der Straße – nun in der Innenstadt – suchte Anton sich den nächstbesten Weg hinunter in die Passage. Dort war es ruhiger und sicherer denn oben in den Straßen – zumindest sprach dies seine Erinnerung. Doch er musste sich überrascht zeigen, wieviel sich seit seinem letzten Besuch in dieser tiefgelegenen Einkaufsstraße getan hatte; alles wirkte abweisender. Die Geschäfte waren natürlich verschlossen und vergittert. Nach links hin führte die Treppe zurück zum Bahnhof; nach Rechts hin ging es zum Kröpcke, seinem Ziel.
Kaum war er unten angekommen, schon ging er rechts zwischen einem Blumenkasten und einem Geschäft in Deckung – sicher war sicher. Laut seiner Uhr hatte er bereits über zwei Minuten verloren; Zeit sich zu beeilen. Von Kasten zu Kasten huschend versuchte er stets im Schatten zu bleiben – jederzeit könnte von oben jemand zu ihm herabsehen. Sein Fehler wurde aber, dass er nicht genug auf die Geschäfte aufpasste. Trotz Ausgangsperren und Stadtwachen schienen einige Kaufleute weiterhin Einbrecher zu fürchten.
Als Anton an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikam, entdeckte ihn dessen Kamera. Lautlos leitete sie den Alarm weiter; gleichzeitig setzte sie die Verteidigungsanlagen in Betrieb: Neben Anton kam raschelnd eine kleine Kanone aus einem der Blumen-kästen gefahren. – Er hatte gerade noch genug Zeit, ein paar Kästen weiterzuhetzen, da eröffnete sie auch schon das Feuer auf ihn. Nachdem die ersten Schüsse verklungen waren, setzte er seinen Weg fort – nun kriechend, bis er den Brückenbogen er-reicht und durchquert und dessen Mauern zwischen sich und der Waffe gebracht hat-te.
Obzwar er nichts von dem Alarm mitbekommen hatte, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schmeckte anders; eine Vorahnung lag in ihr. Und dann sah er das Gitter, das man am nächsten Brückenbogen herabgelassen hatte – das seinen Weg zum Kröpcke versperrte. An den Seiten dieses Bogens waren jedoch auch die nächsten Treppen, über die man die Straße erreichen konnte. Nachdem hier unten nun solche Gefahren lauerten, wäre der obere Weg vielleicht gar nicht so verkehrt. Und doch – oben könnte es sogar noch gefährlicher sein, unter dem Blick der Kameras der gro-ßen Einkaufstempel, die allesamt sicher ihre eigenen Verteidigungsanlagen und Sicherheitsleute hatten. – Nein, lieber wäre er unten in der Passage geblieben, doch welche Wahl bot sich ihm schon? Wie so oft im Leben war die Freiheit der Wahl eine bloß vorgetäuschte.
Vorsichtig machte er weiter seinen Weg hinter den Blumenkästen, jetzt stärker auf verdächtige Vorrichtungen achtend, doch begegnete ihm nichts. – Und dann begann der Krach. Während er noch seine Strecke verfolgend sich gefragt hatte, wie er u-auffällig hinauf kommen sollte, vernahm er plötzlich Stimmen; männliche und auch weibliche Stimmen die miteinander Sprachen, irgendwo oben auf der Straße. Um was es ging vermochte er nicht festzustellen, doch in den Stimmen lagen Anklänge von Gereiztheit und Zorn. Ein Streit schien sich zwischen unbekannten Personen zu ent-wickeln. Anton wusste nicht, ob er froh oder besorgt sein sollte; vielmehr beschäftigte ihn das Verrinnen der Zeit – Er musste dringend auf die andere Seite des Gitters. Im Notfall müsste er rennen, so schnell er könnte – auch wenn dies zu ihrer allen Aufdeckung führen könnte. Diesen Beschluss fassend erreichte er endlich die Treppe und folgte ihr hinauf.
Kurz bevor er oben ankam, sah er vorsichtig auf die Straße – auf seiner Seite schien alles ruhig zu sein – doch auf der anderen Seite standen acht Menschen in ein aufgewühltes Gespräch vertieft. – Anton vermeinte die Kluft der Stadtwache sowie einige Feuerwaffen auszumachen. Nicht unbedingt seine Wunschbestandteile für einen gelungenen Abend. Fast schon kriechend bewegte er sich zwischen eine Bank und die Sicherheitsmauer des Abgrundes zur Passage hin – von dort konnte er sowohl beobachten, als auch sich fortbewegen und blieb doch außerhalb der Sicht des nördlichen Tempels. Die Neugier überwog seinen Zeitdruck und so vertrödelte er absichtlich wichtige Augenblicke, das Schauspiel zu betrachten. Offensichtlich bestand die Menge dort am anderen Ufer aus drei Sicherheitsleuten des dortigen Tempels sowie vier bewaffneten Stadtwächtern. In ihrer Mitte hielten die Templer einen der Männer, die Anton verfolgt hatten, während die Stadtwache versuchte ihn über seine Absichten auszufragen. Es geschah nicht oft, dass die Wächter zuerst fragten bevor sie schossen, doch nützte dies dem Mann auch nicht viel.
Scheinbar wollte er gerade etwas erwidern, da trafen ihn und die ihn Haltenden Schüsse. Sofort suchten die Überlebenden Deckung – und hatten kurz darauf auch genug Zielscheiben, als weitere von Antons Verfolgern aus den Schatten traten und die nächste Brücke überquerten, derweil sie auf die Wächter feuerten. Anton schauderte – hätte er sich schneller bewegt, so hätten diese Männer ihn gesehen. Jetzt blieb ihm aber die Möglichkeit, weiterzukriechen, bis er die hinabführende Treppe hinter der nächsten Brücke erreicht hätte. Auf der anderen Seite schien alles zu sehr mit der Schießerei beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. Kurz vor der Treppe wurde An-ton jedoch fahrlässig: Eine Kamera erfasste ihn und setzte die Waffen des Tempels in Betrieb. Doch er hastete bloß noch weiter und die Treppe hinab in Deckung – derweil die Waffen in dem Kampf auf der anderen Passageseite genug Beschäftigung fanden. Die Verwirrung oben wuchs noch, als von dem stillen Alarm des Bekleidungsgeschäfts alarmiert auch endlich weitere Stadtwächter eintrafen. – Dass all diese Antons Verfolgern jedoch trotzdem weiterhin unterlegen waren, sollte er erst später bemer-ken. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit erstmal dem Weg hinunter an den Fuß des hässlichen Klotzes, der die örtliche Internetüberprüfung beherbergte und sich über seinem Ziel befand.
Der Hof dort unten war karg und wenig genutzt, doch gab es dort immerhin zwei Wachhäuschen der Stadtwächter, die den Weg hinab in den Bahnhof des Kröpckes bewachten. Jetzt war Anton also endlich an den schwersten Teil seiner Reise gelangt. Jedes Haus war von einem bewaffneten Mann besetzt, die beide Befehl hatten selbst bei Krach wie dem an der Oberfläche ihre Posten nicht zu verlassen. – Und natürlich hatten die Schüsse sie trotzdem aufmerksam werden lassen. Im Schatten einer Säule überlegte Anton, wie er an ihnen vorbeikommen konnte, derweil seine Uhr die ihm verbliebenen sechs Minuten ankündigte. Unterdrückt atmend beobachtete er, während der Zeitdruck ihm Schweiß auf die Stirn trieb. Wie könnte er es schaffen an den beiden vorbeizukommen? Und da kam ihm ein Putzroboter unbeabsichtigt zu Hilfe.
Diese kleinen Maschinen waren die einzigen, die unbehelligt die Nacht durchkreuzen durften, ohne dafür erschossen zu werden. Der Kleine steuerte geradewegs auf die Klappe in der Wand weit rechterhand der Wachhäuschen zu. Die Klappe schien groß genug, dass auch Anton dort hindurchpassen würde, also versuchte er sein Glück. Im Schatten der Säulen folgte er der Maschine, die keine Möglichkeiten besaß, ihn zu bemerken, es sei denn als Hindernis, dabei außerhalb der Sicht der Wächter bleibend. Es schien fast zu einfach, doch es klappte. Zwar musste er schrecklich kriechen um der Maschine folgen zu können, doch bald war er drinnen: im Wartungsbereich des Kröpcke.
Endlos schien es durch dunkle enge Tunnel zu gehen, bis er endlich wieder eine Klappe zu einem betretbaren Bereich erblickte. Dort hindurchkriechend erkannte er die große obere Halle des Kröpcke, die nun bei Nacht in Dunkelheit lag, nur schwach erleuchtet von schummrigen blauem Licht. Ob dies eine weitere Abwehrmaßnahme war? Seine Augen konnten kaum etwas fassen, kaum etwas erkennen – alles ver-schwamm vor seinen Augen, die in diesem Licht bloß noch schmerzen konnten. Es schien schrecklich, doch er musste es ertragen. Undeutlich erkannte er immerhin, dass die Rolltreppen hinab zur tiefsten Ebene genau vor ihm lagen, er sein Ziel also schon fast erreicht hatte.
Nun galt es nur noch, in diesem bösartigen Licht den vermutlich vorhandenen Kame-ras aus dem Weg zu gehen und hinab zu gelangen. Doch einfach schien das nicht, konnte er sich in dem Licht doch kaum aufrecht halten. Und doch sah er sowohl fern links den Eingang neben den Propagandaplakaten bewachend sowie auch noch genau über den Rolltreppen je eine sich schwenkende Kamera. Diese galt es also zu umgehen. Doch diesmal half ihm nichts mehr, diesmal gab es keine wundersamen ablenkenden Umstände mehr; auch konnten ihm die Säulen der Halle nicht weiter helfen, denn diese als Deckung nutzend bliebe er trotzdem stets im Sichtbereich einer der Kameras. Er sah aber keine andere Möglichkeiten mehr; er musst einfach einen Lauf versuchen – seine Zeit war immerhin fast abgelaufen. Und selbst wenn die Kameras die Wachen benachrichtigen sollten, könnte er immer noch vor ihnen unten und verschwunden sein.
Also wagte er es: Tollkühn rannte er plötzlich aus der Hocke heraus los und drückte sich in der Mitte der Halle gegen eine Säule, außerhalb der Sicht der Rolltreppenkamera, doch weit im Feld der anderen. – Und nichts geschah. Sollte es möglich sein? – Schnell sah er hinüber zum Eingang und tatsächlich, sie war gerade diesem zugewandt; nur langsam schwenkte sie um zu ihm. Kurz bevor sie ihn doch noch in Sicht hatte, wirbelte er um die Säule herum, der anderen Kamera zu begegnen – und auch diese sah gerade weg, hinab zur Zugebene.
Welch Glück! Dachte er bei sich und hastete die ausgeschaltete Rolltreppe hinab, hinunter in die unterste Ebene, wo sein Zug auf ihn wartete – noch für etwa eine Mi-nute. Auf halbem Wege angelangt sah er sie; all die Züge, die Nacht für Nacht hier schlafen durften, um die von Flüchtlingen überfüllten Straßenbahnhöfe zu entlasten. Und der dort, der ganz hinten – das war seiner.
Doch kaum erreichte er das Ende der Treppe, da geschah es: In seiner Hast hatte er vergessen, dass es hier unten auch Kameras geben mochte. Eine entdeckte ihn – und ihr Alarm war nicht still. Während sein Gleichgewichtssinn noch gegen das schreck-liche blaue Licht kämpfte, wurde nun sein Bewusstsein mit Pfeilen aus reinstem Lärm angegriffen. Taumelnd machte er sich auf den verbliebenen Weg. Ein letztes Mal be-lebte ihn sein Überlebenstrieb, als an den Wänden einzelne Plakate an unsichtbaren Fäden wie Vorhänge gehoben wurden und die Schlünde ihrer Waffen in die Welt hin-aussteckten.
Anton rannte, so schnell wie er noch nie gerannt war, und hinter ihm prallte Kugel um Kugel in die schlafenden Wagen. Fenster barsten, Metall wurde durchlöchert; die Hölle hatte sich ihm hier wahrhaftig eröffnet. – Und dann, mit einem Mal, war alles so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Im letzten Augenblick seiner Zeit erreichte er seinen Zug, während dieser langsam losfuhr. Er suchte sich seinen Weg in ein Abteil der ersten Klasse, wo er sich erschöpft in einem Sessel niederließ. Endlich war es vorbei; endlich konnte er ausruhen. – Oder doch nicht?
Unvermittelt betrat ein Mann sein Abteil, gekleidet wie die ihn verfolgenden Männer und begleitet von ebensolcher zwei. Dann sprach er.
„Anton! – Sie hätten es fast geschafft uns abzuhängen.“
„Leider nur fast.“
Anton verzog das Gesicht. Er wollte doch nur noch schlafen.
„Aber hier sind wir – genau wie sie.“
„Ja – und ich habe gewonnen! Ich habe es in der Zeit hierher geschafft.“
Anton grinste, trotz Müdigkeit und Schmerzen.
Der Mann legte den Koffer, den ihm einer seiner Begleiter gab, neben Anton auf den Beistelltisch.
„Ihre Bezahlung – wie abgesprochen. Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden könnte. Auch wenn die letzte fast ihr Verhängnis geworden wär – wir müssen vieles ausbessern. – Tatsächlich!“
„Ja – ihre Anlagen sind halt doch nicht so gut; ich sagte es ihnen. Schade nur um ihre Leute, die getötet wurden.“
Doch der Mann winkte nur ab.
„Ach, die wussten um ihr Risiko – sie lebten und starben für den Staat, wie wir alle.“ Vielsagend blickte er zu seinen Begleitern, deren Gesichter ausdruckslos blieben. Dann sah er Anton in die Augen. „Sie dagegen sind unabhängig. Auch wenn ich nicht weiß, warum man sie frei und am Leben lässt – scheinbar sind sie nützlich genug.“ Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da schien ihm etwas einzufallen. „Sie wissen ja, der Zug bringt sie auf’s Land. – Darf man fragen, was sie nun vorhaben?“
Müde lehnte sich Anton zurück als halbe Antwort, bevor er sich für eine Entgegnung entschied.
„Schlafen – und dann das Geld ausgeben!“
Und Anton lachte.


GaU05 Am Bahnhof Köln

Oktober 5, 2013

Eine Lautsprecherdurchsage weckte Robert. „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof.“ Erschrocken richtete er sich auf. Waren sie wirklich schon da? – Tatsächlich: Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die aufragenden Blöcke der Großstadt des rechtsrheinischen Ufers, plötzlich unterbrochen durch den Lauf des Flusses.
„Ach, das wurde auch Zeit.“ Der Mann ihm gegenüber räkelte sich und lächelte ihm zu. „Ich kann es kaum erwarten meine Freundin zu sehen.“
Robert nickte seinem Gegenüber in dem auffälligen gelben Regenmantel bloß zu, dann machte er sich fertig. Der Zug wurde bereits langsamer.
Am Bahnhof angekommen glitten die Türen des Zuges vor Robert lautlos zur Seite. Als er mit seinem Koffer den Wagen verließ, stolperte er fast über einen kleinen braunen Hund, der einmal quer über den Bahnsteig lief, verfolgt von einem kleinen Bahnangestellten mit Hut und Schnurrbart. Verwundert ließ Robert von diesem Schauspiel bald ab und trottete in Richtung der Wartehalle. Köln war nicht sein Endziel; ein bloßer Aufenthalt, bevor es weiterginge nach Paris, wo er sich Erholung und Ablenkung erhoffte. Doch bis der nächste Zug käme, würde es noch dauern. Gezwungenermaßen machte er es sich also auf einer Bank der Halle so gemütlich wie möglich. Schweigend betrachtete er die Nachrichten- und Werbebildschirme, doch seine Gedanken drifteten ab. Diana – warum hatte sie ihn verlassen? Hatte er ihr nicht immer alles gegeben, alles für sie getan? Und nun war sie fort und er musste allein von dannen ziehen.
Schnell wurde er in seinem Selbstmitleid unterbrochen, als sich ein älterer Mann neben ihn setzte. Ohne sich vorzustellen oder dazu aufgefordert zu werden, fing dieser an zu reden. „Ach, diese Werbung – dieser neumoderne Schnickschnack! Erinnert mich an die alte Zeit, da wir alle gehorchen sollten. Jetzt ist es wieder so. Helga, meine Frau – sie kauft gerade dahinten in diesen ‚Colonaden‘ ein – wir gehen gleich essen – konnte damals nur knapp entkommen. Heute entkommt dem keiner mehr. Wie froh wir doch sind, dass wir uns haben! – Und sie, haben sie auch jemanden? – Oh, habe ich etwas falsches gesagt?“
Doch schon hatte sich Robert erhoben und ging in Gedanken versunken in Richtung des Bahnsteigs. Er wollte lieber dort warten. Wieder musste er dem Hund samt Angestelltem ausweichen, doch störte sich nicht mehr daran. Während er die Rolltreppe nahm, kam ihm auf der anderen Seite der Mann im gelben Mantel entgegen. Dieser nickt ihm zu, was Robert nicht bemerkte – seine Gedanken waren bei Diana.
„Ach, da bist du ja endlich!“ Der Alte Mann erhob sich, als seine Frau sich näherte. „Hast einen guten Fang gemacht – Seh‘ ich!“ Nun, da Helga zurück war, konnten sie endlich essen gehen. Sein Magen hätte ihn sonst noch aufgefressen. Während sie auf das Restaurant zuhielten, erzählte sie ihm ihre Erlebnisse in den Einkaufsläden. Er dagegen frönte dem, was ihn dreißig Jahre Ehe hatte ertragen lassen: Er ließ seine Gedanken schweifen. Am anderen Ende der Halle sah er einen Mann im gelben Regenmantel stolpern, als ein kleiner brauner Hund an ihm vorbei lief. Kaum hatte er sich wieder gefangen, prallte ein Bahnangestellter mit Mütze und Schnurrbart gegen ihn. Beide fielen hin.
Den Anblick zu köstlich findend, kicherte der alte Mann wie ein kleines Kind und bemerkte nicht, wie Helga ihn daraufhin böse ansah. „Nur weil ich nicht in dieses Kleid gepasst habe bin ich nicht zu dick!“
Verwundert sah er sie an. „Was?“
„Verzeihung!“ Ohne auf eine Antwort von dem Mann in Gelb zu warten lief Norbert weiter, nachdem er sich erhoben hatte. Schnell aber musste er einsehen, dass der Hund ihm entkommen war. Sich und die Welt verfluchend stapfte er zurück zu seinem Häuschen am Bahnsteig. Christa wartete bereits.
„Na? – Hast ihn wohl nicht bekommen?“
Erschöpft ließ sich Norbert auf seinen Stuhl fallen. Das war nicht sein Tag. „Ist irgendetwas passiert?“ Bei seinem Glück hatte er sicherlich etwas aufregendes oder wichtiges verpasst. Doch Christa verneinte nur.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber weißt du – wir können diesen Hund hier nicht so frei rumlaufen lassen! Ruf den Hundefänger! – Und wenn du es nicht tust, mache ich es halt. Danach muss ich dann aber weg, das weißt du. Ich kann nicht ewig hier warten und aufpassen, während du versagst. Karl wartet bestimmt schon!“
Du bist ein Miststück, war das einzige, das Norbert als Erwiderung einfiel. Er setzte dort draußen seine Gesundheit aufs Spiel um wilde Tiere zu jagen, während sie bloß hier saß und auf den Bildschirm starrte. Doch laut auszusprechen wagte er es nicht. „Dann geh; ich mache das schon.“
Freude stahl sich in Christas Züge und wie ein kleines Kind sprang sie auf. „Danke!“
Als er allein war, verfluchte Norbert sie, seine Arbeit sowie sein Leben. Und Zuhause wartete seine Frau.
Christa eilte in Richtung der Wartehalle. Bevor sie dort hingelangen konnte, sah sie den kleinen braunen Hund in Richtung der Züge eilen. – Der Hund! Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit; Karl wartete schon. Doch – in der Wartehalle angekommen wurde sie diesbezüglich enttäuscht. Nirgends ein Karl, bloß zig andere Reisende und Besucher. Traurig setzte sie sich auf eine der Bänke. Seit sie vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass Karl in die Stadt käme, freute sie sich darauf. Und da es diesseits des Flusses nur noch wenig Grund zur Freude gab, wäre ein Treffen umso schöner gewesen. Hatte er sie jetzt vergessen? – Kurz fingen Kriegsbilder auf den Bildschirmen ihre Aufmerksamkeit… und plötzlich wurde es schwarz.
„Rate wer da ist!“
Als sie diese Stimme hörte, wurde sie wirklich zu einem kleinen Kind. Heftig sprang sie auf. Die Hände vor ihren Augen konnten sich gerade noch retten, da fiel sie schon Karl um den Hals. „Karl! Wie habe ich dich vermisst!“ Nach dem ersten Augenblick der Begrüßung trat sie zurück, ihn zu betrachten. „Aber was für ein scheußlicher gelber Regenmantel – als würde Mutter dich immer noch einkleiden.“
Doch Karl lachte nur. „Immer noch das kleine freche Gör! – Aber setz‘ dich – ich habe nicht viel Zeit.“
Jetzt setzte Christa wieder ihr trauriges Gesicht auf. „Du musst schon wieder gehen?“
„Ja, bald – aber keine Angst, ich bleibe in der Stadt für eine ganze Weile. Ich erwarte hier noch jemanden – ich habe mich verliebt!“
„Oh! – Wie schön! – Erzählst du mir von ihr?“
Natürlich kam Karl dem nach. Alles was er konnte, erzählte er ihr in der kurzen Zeit, die er hatte. Er lernte sie daheim in Bochum kennen, durch einen Zufall. Sie war gerade dabei gewesen die Stadt zu verlassen, da sie sich eine Weile zuvor von ihrem Freund getrennt hatte, der sie stets misshandelt hatte, und es deshalb in Bochum nicht mehr aushielt. Ihr Ziel war Köln und er beschloss ihr weiter zu folgen, als sie dann endgültig weggezogen war. Nun war er also auch hier, sie zu treffen und eine Weile bei ihr zu bleiben – und seine Schwester könnte er bei dieser Gelegenheit auch mehrmals besuchen.
Kaum hatte er geendet, da fiel ihm der kleine Hund auf, der erneut durch die Halle rannte. „Ist so etwas nicht verboten?“
Christa folgte seinem Blick und verzog das Gesicht. „Ja, sicher, aber dieser Idiot Norbert schafft es einfach nicht, ihn einzufangen. Ich werde zurückgehen und die Sache selbst übernehmen! – Und du meldest dich, wenn du Zeit hast!“ Damit verabschiedeten sie sich und Christa verschwand wieder in Richtung der Gleise.
Kurze Zeit später wurde Karls Warten endlich beendet. Strahlend erhob er sich und ging ihr entgegen. „Diana! – Wie sehr ich dich doch vermisst habe!“
Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie beschlossen, sich zusammen an einen Getränkestand zu setzten, um sich ihre Neuigkeiten zu erzählen, bevor sie in die Stadt aufbrächen. Karl erzählte ihr, dass er den Staat um Erlaubnis gebeten hätte auch nach Köln ziehen zu dürfen und dass er zuversichtlich sei diese auch zu bekommen. Sie lächelte ihn daraufhin an und meinte eine Überraschung für ihn zu haben, doch sei diese bei ihrer Ankunft im Bahnhof verschwunden. Vielleicht aber würde sie ja noch einmal auftauchen.
Und tatsächlich: Wenig später, als sie bereits ihre Getränke genossen, kam plötzlich der kleine Hund angerannt und sprang Diana mitten auf den Schoß.
„Ach – da bist du ja! Wo warst du denn?“
Während der Hund sie fröhlich anwedelte, kam hinter ihm Norbert japsend an. „Ist das ihrer?“ – Und nachdem er befriedigt war und ihr noch eine Belehrung gehalten hatte, zog er wieder von dannen.
Diana zeigte Karl ihre Überraschung: ihr neues Haustier.
„Du solltest ihn besser anleinen!“
Lachend gab ihm Diana einen Kuss.
Am anderen Ende der Halle beobachtete Robert das Geschehen am Getränkestand. Nun wusste er, warum sie ihn verlassen hatte. Sollte er es wagen sie anzusprechen? – Dieser Bastard! – Doch sein Zug käme gleich. Gebrochenen Herzens trottete er davon, während sich Tränen in seine Augen stahlen.