Endlos Schwarz und Weiß

November 17, 2013

Jeder neue Tag, jeder neue Frage: Wann mag es zu Ende sein?
Das Aufstehen. das nicht-aufstehen-wollen. Das Niedersinken und weiterschlafen. Tabletten nehmen. Zum schlafen?
Den Tag ziehen lassen.
Die Mittagssonne neigt sich dem Ende.
Vielleicht doch mal aufstehen.
Schwindel, Übelkeit, der Wunsch nach dem Strick.
Wartet ein Termin? Folgt man ihm?
Mit dem Schal ins Bett, weg mit dem Gefühl.
Aufstehen an den PC, Nachrichten warten.
Den Kopf an die Wand, das Gesicht ins Kissen. Weinend.
Die Arbeit vollenden, stolz auf vollbrachtes.
Eine Tablette nur noch, weiter vergessen.
Raus aus dem Haus, Freude über den Weg. Nimm nicht jeden so wichtig.
Warum meldet sich niemand? Ist man wirklich so egal?
Durch die Menschenmenge, der Ärger gibt Kraft. Weg mit euch.
Verzweifelt den Kopf an die Scheibe, so allein.
Da, jemand neues. Was mag es wohl sein?
Was willst du? Warum gehst du nicht? Wunsch allein zu sein.
Froh über Gesellschaft. Wie lange wohl noch?
Nein, niemals allein. Alles, nur das nicht. Verzweiflung.
Ablenkung ist immer gut.
Langeweile, nach Hause ins Bett? Verkriechen für immer?
Spaß zu beobachten. Schön ist es hier.
Der Weg hinab ist lang. Ein Sprung vielleicht?
Die Wand anmalen. Austoben. Aufräumen. Sport und Aktivität. Musizieren und tanzen.
Betäubung des Gefühls. Doch gelingt es nicht.
Schlag mit dem Stab. Weinend in der Ecke.
Liebe. Hoffnung. Zärtlichkeit. Geborgenheit.
Schmerz. Verzweiflung. Angst. Einsamkeit.
Schreiben. Verlieren. Träumen. Erfinden.
Keine Lust. Keine Idee. Keine Kraft. Zuviele Gedanken.
Jeder neue Tag, jeder neue Frage: Wann mag es zu Ende sein?
Spät bis in die Nacht. Nicht schlafen zu müssen. Drogen so nah.
Oder doch die Tabletten, schlafen für immer?
Was soll man tun. Was ist richtig. Was wünscht man sich?
Fort mit dem Bösen. Leicht oder schwer? Angst vor dem Leichten. Keine Kraft für das schwere.
Leere.
Endlose Wiederholung.
Endlos Schwarz & Weiß.
Wo ist die Mitte?

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Die Alphabet-Spielzeuge

November 10, 2013

Und A war unzufrieden mit B.
Und A traf C.
Und A wurde das Spielzeug von C.
Und A und C verliebten sich.
Und A wurde unzufrieden mit C.
Und A traf D.
Und A wurde das Spielzeug von D.
Und C war verletzt.
Und C traf E.
Und C wurde das Spielzeug von E.
Und A wollte zurück zu C.
Und E verließ C.
Und C war verletzt.
Und A wurde das Spielzeug von C.
Und A und C verliebten sich.
Und A verließ B.
Und B war verletzt.
Und A und C stritten sich.
Und A verließ C.
Und A wurde das Spielzeug von D.
Und C war verletzt.
Und C erkannte, dass es nicht mehr spielen will.
Und A sprach, ich will auch nicht mehr spielen.


Nächtliche Gedanken (aus dem Leben eines Schriftstellers)

Oktober 27, 2013

Die Axt wog schwer in seiner Hand. Sanft strich er ihr über den Kopf, wie über ein zartes Tier. Schwer lag sie in seinem Schoß; die Axt, sein einziger Freund. Die ewig Kühle, die Massive, die Reale.

All die Hirngespinste, all die Furcht, all die Trauer. Die Einsamkeit, die Zweifel, die Frage nach dem Sinn des Ganzen und nach Aussicht auf Erfolg. Eine Absage nach der anderen, nie ein gutes Wort. Wozu das Ganze eigentlich?

Doch die Axt, sein Freund, könnt all dies beenden. Hart und kalt spürte er ihre Schneide auf seinem Gesicht. Die Schläge prasselten hernieder, das Blut fing an zu spritzen, die Knochen barsten.

Er öffnete die Augen, legte die Axt beiseite und nahm sein Buch wieder auf. Der Zwang weiter zu schreiben herrschte seit Tagen, seit Wochen. Mit jeder verstrichenen Minute wurde es schwerer. Und sein Hirn blieb leer.

Die Hand wanderte erneut zur Axt. Wie ihre Schärfe doch alles würde beenden können. Wie würde sich das wohl anfühlen?

Er wusste nicht wie, doch es geschah etwas. Bevor er sich versah, hatte er wieder Stift und Buch in der Hand. Er las die bereits verfassten, nun wartenden Sätze. Wie würde es weitergehen? Und dann war es da. Die Wörter füllten die Zeilen, die Seiten.

Und alles wurde egal. Was auch immer jetzt geschehen würde, er war glücklich.


GaU08 Nach dem Unglück

Oktober 20, 2013

I.

Bert war der Name des Insassen, so das Schild neben den Gitterstäben. Irgendwie passend. Benno stierte durch die Schlitze. Drinnen, in einem kleinen ungemütlichen Verschlag ohne Einrichtung, stand der Gefangene stumm und starr. Es schien fast, als wartete er auf etwas. Selten einmal benutzte Bert auch seine Gliedmaßen für einen kleinen Spaziergang, an dessen Ende er meist immer wieder an dieselbe Stelle der Wand lief – und dies solange wiederholte, bis man ihn davon abhielt. Danach war er still bis es Stunden später wieder anfing. Und er war nicht der einzige; fast jeder ihrer Gäste hier verhielt sich so.

Aber gut, dachte Benno bei sich, wenn man aussah wie ein wandelnder Unfall und auch nach dem roch, was man war – mehrere Wochen altes totes Fleisch – war es vielleicht nur vernünftig, sich frühzeitig den Schädel einzurennen. Einem war es sogar mal gelungen, so ihren Fängen zu entkommen. Seitdem galt es die kleinen Stinker stetig zu bewachen. Warum man sie nicht einfach festband, konnte Benno nicht verstehen. Auch wusste niemand, warum sie sich überhaupt so verhielten. Wirkliche Vernunft jedenfalls schienen sie nicht zu besitzen; keiner ihrer zahllosen Versuche hatte in der Hinsicht je Ergebnisse gebracht. Also galt es eigentlich nur herauszufinden, warum sie so waren und wie man sie bekämpfen oder verwerten könne.

Ihm, Benno, missfiel es gründlich, ständig auf das Pack aufpassen zu müssen. Wenn sie nicht gerade gegen die Wände liefen – stets gen Norden – waren die Insassen nämlich äußerst langweilig. In Gefangenschaft waren sie seltsam harmloser denn in freier Wildbahn. Bert beobachten machte ihm kaum noch Freude. Dann und wann nahm er in solchen Momenten einen Stab und stocherte nach den Gefangenen oder schmiss einen Stein auf sie – ohne dafür aber auch nur ein Zucken zu bekommen.

Nun stand er genau vor den Stäben; dem einzigen, das ihn von dem wandelnden Toten trennte; spürte nicht einmal Angst, nur – Abscheu und – Langeweile. Versuchsweise streckte er seinen Arm durch die Stäbe – und zuckte sofort erschrocken zurück; so stark, dass er sich den Arm prellte.

„Hör endlich auf sie ständig zu ärgern – sonst ärgern sie eines Tages zurück!“

Mit dem Gesichtsausdruck eines ertappten Jungen drehte er sich eilends um. Musste Anna immer so überraschend kommen? Irgendwann brächte sie ihn noch dazu, auch zu den Vermodernden zu gehören.

„Ich löse dich hier ab – du sollst mal ins Labor – da kannst du weniger anstellen.“

Benno gehorchte nur und murmelte eine Verfluchung, als er den Zellentrakt verließ.

 

II.

Die Einöde stank. Wo er auch hinsah, erblickte Benno nur endlos scheinende Felder. Eigentlich war er ja bloß eine Stunde Weg von der Stadt entfernt, doch erschien es ihm wie eine andere Welt. Wo sollte sich hier, im Nirgendwo, schon ein sich nicht setzen, nicht hinlegen, nur stets weiter stumpf vor sich hin wandeln könnender Toter schon verstecken? Benno war kurz vorm Verzweifeln – doch er suchte ja auch erst eine Stunde. Zum Glück war Bert bei Sonnenaufgang ausgebrochen, so hatte Benno nun den ganzen Tag Zeit nach ihm zu suchen.

Annas Worte geistig wiederholend brach er in Selbstmitleid aus. Warum er? Es war nicht seine Schuld! Auch er hatte menschliche Bedürfnisse, auch er musste mal austreten dürfen. Der Rest erschien ihm sowieso schleierhaft. Wie hatte der alte Bert sich befreien und unerkannt durch den Keller zum Hinterausgang gelangen können? Dies schien unmöglich ohne fremde Hilfe, doch der Anschuldigung es gewesen zu sein verwehrte sich Benno natürlich. Immerhin aber war niemand zu Schaden gekommen, niemand verletzt worden – sah man einmal davon ab, dass Bennos Würde durch diese Strafe mehr als geknickt war. Wenigstens hatte man ihm einen Schockstab mitgegeben, den er nun gut als Wanderstab nutzen konnte. So gewappnet spazierte er weiter gen Norden, immer wieder nach Bert Ausschau haltend.

Mit der Zeit fragte er sich, ob er wohl irgendwo, irgendwann irgendwas zu essen finden würde, das nicht auch schon bereits von Bert angeknabbert wäre. Doch er wusste genausogut wie alle anderen, dass hier draußen keine Menschen mehr lebten, seit die Unfälle und die damit verbundenen Heimsuchungen durch Tote geschehen waren. Ein riesiges Gebiet, dass leer und wüst dalag, obwohl schon lange alle Auferstandenen erlegt oder gefangen genommen wurden. Und dies soll einst ein Freizeitparadies gewesen sein?

Nach etwa einer weiteren Stunde veränderte sich die Landschaft endlich. Unermüdlich war Benno den schleifenden Spuren des Wandelnden gefolgt, die sich schnurgerade durch die Öde zogen und hatte als Abwechslung bloß seine Gedanken, die sich wunderten, wie solch ein langsames Geschöpf trotzdem solch einen Vorsprung haben konnte. Und dann tauchten allmählich am Wegesrand vereinzelte Baumgruppen auf und plötzlich stand er inmitten der Ruinen.

Einst muss dies eine kleine Stadt gewesen sein; nun war sie nur noch Schutt und Staub. Vereinzelt ragten Überreste auf – Mauerteile; selten bildeten sie noch vier Wände, wenige hatten mehr als ein Stockwerk und keines ein Dach. Es gab jedoch genug Möglichkeiten, sich hier zu verstecken, selbst wenn man es nicht wirklich versuchte – oder es versuchen konnte. Der Ort  schien nach einem großen Feuer aufgegeben worden zu sein, vermutlich zu der Zeit als sich die Toten erhoben. Trotzdem erkannte Benno hier und da Knochenteile in den Trümmern aufragen, die nicht so alt wirkten. Ob sich in der Zeit zwischen damals und seinem Auftauchen wohl nochmal jemand hierher verirrt hatte? Möglich wäre es, da zwar das gesamte Gebiet umzäunt, doch nur stellenweise bewacht war. Niemand würde sich die Mühe machen Menschen, die sich freiwillig in Gefahr begaben, von ihrem Schicksal abzuhalten und die Wandelnden könnten die Zäune niemals erklimmen.

In diese Gedanken versunken bemerkte er die Bewegung am Ende der Straße erst spät – etwas torkelte und schlurfte dort langsam vor sich hin. Konnte es sein? – Ja, endlich hatte er Bert entdeckt; er trug sogar immer noch seine Gefängnis-Kleidung. Hastig verschwand Benno zwischen den Überresten eines Hauses und lugte zum offenen Fenster hinaus, doch der Tote schien ihn nicht bemerkt zu haben. Nun, da er ihn gefunden hatte, sollte es seine Aufgabe sein, den Flüchtigen mit dem Schockstab zu betäuben, festzusetzen und die anderen zu benachrichtigen, dass sie ihn abholen mögen. Doch fangen sollte er ihn allein; das war Teil der Strafe.

Vorsichtig folgte er Bert durch die Ruinen soweit es ging, derweil dieser über die Hauptstraße wankte. Als es keine andere Wahl mehr gab, wollte er es wagen: den Schutz verlassen, sich nähern, zuschlagen. Doch gerade als er einen Fuß ins Freie setzen wollte, erschien aus einer Seitenstraße ein weiterer Wandelnder. – Und da, auf der Hauptstraße, aus der Richtung aus der Benno gerade gekommen war: noch einer. Auch aus anderen Richtungen erschienen welche, so dass letztlich fünf Gestalten Bert gen Norden folgten, alle stumm, doch alle gleich widerlich anzusehen. Benno überlegte was zu tun sei und entschloss sich zu folgen.

 

III.

Der Weg der Toten führte sie einmal durch die Stadt gen Norden. Benno versuchte so gut es ging Schritt zu halten und zu folgen ohne dabei selbst erblickt zu werden, was sich als überraschend schwierig erwies. Zwar achteten die Verfolgten nicht auf ihre Umgebung, wanderten nur stets still weiter, entweder Bert folgend oder zumindest dieselbe Richtung einschlagend, doch kamen immer weitere hinzu. Mehr als einmal erschrak Benno selbst halb zu Tode, als aus irgendeiner Seitenstraße ein neuer stiller Tod erschien und sich der Herde anschloss. Wann immer er nicht um seine Gesundheit fürchtete, fragte Benno sich, wo diese wohl hinstreben mochten. Was gab es da im Norden, dass sie alle so anzog?

Mittlerweile war ihm auch aufgefallen, dass er die Größe des Ortes unterschätzt hatte, denn immer noch durchschritten sie Ruinen und die Häuser schienen zu wachsen. Dann plötzlich erreichten sie ein gewaltiges Gebäude mit angeschlossener riesiger Halle: ein Bahnhof. Auch dieser wies überall Spuren des Verfalls auf, doch lange nicht so stark wie der Rest der Stadt. Aus allen Himmelsrichtungen sah er die Verwesenden kommen und über einen großen Platz durch die Haupttore des Gebäudes strömen; doch die meisten kamen aus Süden.

Fast zwei Stunden musste er in Deckung warten, bis endlich auch der letzte Strom abbrach; dann wagte er es. Sich die Treppe zum Bahnhofstor hochschleichend verfluchte er sich selbst für seine Tollkühnheit, doch da war es schon zu spät und er im Gebäude. Dort hatte er gerade noch Zeit sich ein Versteck zwischen zwei Pfeilern zu suchen, als es begann.

Die Toten hatten sich im Halbkreis in der Haupthalle versammelt und verharrten still, da kamen weitere aus Richtung der Gleishallen. Diese sahen anders aus; älter und verfallener. Vielen fehlten Gliedmaßen, einige konnten kaum noch richtig gehen. Diese alle, still wie der Rest, kamen vor den Halbkreis und verharrten da. Und dann plötzlich stürzten sich die Versammelten langsam, doch gewiss auf die Alten; zehrten von ihnen; erlösten sie.

Bennos aber wurde schlecht. Er blieb in seinem Versteck, bis das Festmahl beendet war, die jungen Toten Überreste mit hinaus in die Stadt zerrten und verschwanden. Erst nach einer langen Zeit wagte er die Heimkehr; er hätte viel zu berichten.

 

ENDE


GaU07 Ein Deutscher in Amerika

Oktober 13, 2013

Dies ist mein letzter Tag auf Erden. Bald werden sie mich holen. Mein Leben habe ich verwirkt – und nur, weil ich Freunde in Amerika besuchen wollte und nicht genug über dieses Land wusste. Ich weiß nicht, wer dies einst lesen sollte, doch will ich die Wahrheit erzählen, die man mir hier gestohlen hat. Ich hoffe, diese Schilderung wird heim gebracht, damit der Staat von den Vorgängen hier erfährt.

Es ist schon sonderbar – obwohl Amerika und Europa bereits eine Weile als Ameropa vereint sind, wurde die Trennung eigentlich nur noch schlimmer. Doch glücklicherweise scheint das System nicht überall durch, hat nicht alle Lebenslagen durchdrungen: Ich besaß Freunde in Amerika, wie soviele bei uns; Freunde, die mir jetzt nicht mehr helfen können. Vor wenigen Monaten schrieb mir mein alter Freund James, den ich einst zu Studienzeiten daheim in Deutschland kennengelernt hatte, als die Grenzen noch nicht so verwickelt waren, ob ich ihn und seine Familie nicht einmal besuchen kommen möchte. Der Zeitpunkt war gut gewählt, wusste er doch, dass mein Studium nun vorbei war und ich Zeit zu überbrücken hatte, bis der Staat mir Heim und Arbeit zuweisen würde.

Ich war viel zu unwissend, dies war mein Verderben. Die Reisepapiere zu bekommen war bereits eine große Anstrengung. Vermutlich wäre es besser gewesen, hätte man mir die Ausreise nicht erlaubt. Doch letztlich bewilligten sowohl der Staat als auch Amerika diese. Freunde zu besuchen sei ja kein Vergehen, hieß es da noch scherzend von einem Beamten. Ich war sehr gespannt, wie Amerika jenseits der Nachrichtensperren aussah. Und dann ging alles sehr schnell. Seitdem die Fernreisemittel in staatlicher Hand sind, verläuft zumindest das Reisen zügig. Vor zwei Wochen kam ich hier in Los Angeles an. – In der Stadt Los Angeles, auf deren Gebiet ich mich befinde – und doch wieder nicht.

James ließ mich freundlicherweise vom Flughafen abholen und zu sich bringen. Der Flug zu ihm verwehrte mir jegliche Ansicht der Stadt, die mich hätte warnen können. Seine Familie besitzt eine eigenständige Villa, hoch oben auf dem Grün einer der Stadttürme. Der Flug dort hinauf und die Aussicht von oben behagten mir gar nicht, schon immer hatte ich Höhenangst. Kaum, dass James mich begrüßte, erklärte er mir auch schon die Umstände. Dass seine Familie reich war wusste ich ja bereits, doch nicht, wie sie lebten: so hoch oben auf einem Turm. Seit Los Angeles jedoch ebenso wie andere Gebiete des Landes teilweise an zahlreiche kleinere private Staaten verkauft worden war, musste man zur Landnutzung im restlichen Gebiet immer weiter in die Höhe bauen. Ich hätte damals besser auf die weiteren Schilderungen der amerikanischen Verhältnisse achten sollen – doch wenige Tage später bekam ich sie am eigenen Leibe zu spüren. Diesen Tag meiner Ankunft will ich jedoch als letzten schönen Tag meines Lebens behalten. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte er mich seiner Familie vor: Emma, seiner Frau, sowie seinen Geschwistern Dorothy und Virgil, die beide noch mit im Haus der Familie wohnten. Oh Dorothy, verzeih mir diese Qual, in die ich dich stürzte!

Den ersten Tag ließ James mir noch zur Umgewöhnung, am zweiten zeigte er mir den Stadtturm, am dritten gab es eine große Feier seiner Familie und Freunde. Der Anlass schien ausgerechnet die Entscheidung Amerikas zum Beitritt in den asiatischen Krieg zu sein. – Und auch wenn James mehrmals beteuerte, dass er nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stelle, fühlte ich mich dennoch betrogen. An diesem Abend war allerlei hohes Getier anwesend und trank und redete feuchtfröhlich miteinand. Während ich anfangs es noch bevorzugte abseits zu stehen, führte mich später Dorothy hinaus auf den Dachgarten des Turmes, zwischen all den anderen Villen hindurch bis zu einer der Begrenzungen, von denen man Stadt und Land betrachten konnte. Im Dunkel wirkte es freundlicher als einen Tag darauf. Dorothy und ich unterhielten uns gut an diesem Abend; wir verstanden uns! – Dorothy, wie gerne hätte ich dich mit in meine Heimat genommen.

Am nächsten Morgen dann lud James uns ein, eine Fahrt durch die Stadt zu unternehmen. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich hätte abgelehnt. Zu Viert machten wir uns auf den Weg: James am Steuer, Virgil daneben, ich mit Dorothy auf der Rückbank. Emma bevorzugte es daheim zu bleiben. – Welch weise Entscheidung. Zunächst einmal hatten wir von der Villa herab durch den Turm in die Straßen zu kommen, bestand James doch darauf ein altmodisches Auto zu nehmen. Glücklicherweise ersparte da der Lastenaufzug uns eine lange Fahrt. Und kaum waren wir in den Straßen, erwartete mich eine böse Überraschung. Viel hatte ich über den Wandel Amerikas der letzten Jahre gehört, fast alles tat ich als Gerücht ab, ließ das Land doch kaum Neuigkeiten selber ins Ausland strömen – und auf nichts dort draußen war ich wahrhaftig vorbereitet.

So kam es dann, dass ich staunend allerlei Fragen stellte, während wir durch die engen Häuserschluchten fuhren. Tatsächlich gehören die meisten Teile der Stadt verschiedenen Privatstaaten. Wie James mir – erneut – erklärte, besteht Amerika nur noch aus einer Handvoll größerer Staaten. Das ganze restliche Land, welches kaum einen Bruchteil des Ganzen ausmacht, müssen sich die Privatstaaten teilen. Natürlich gibt es hierbei mehr Nachfrage denn Angebot, so dass sich die Preise schnell erhöhten. Um dennoch zum Zuge zu kommen entschlossen einige Nachfrager sich zusammenzutun. Dies ist die Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass wir einige Stadt- und Landteile durchfuhren, in denen sich zu einer festgesetzten Uhrzeit plötzlich die Flaggen änderten: Der Besitzer der Stunde war nun dran. Das wieder führt zu teils seltsamen Begebenheiten, denn oftmals wechseln auch ganze Gesetzessysteme mit den Besitzern. Wo in einem Moment das freie Paradies liegt, kann im nächsten schon ein Arbeiterstaat hocken. Dass dabei Länder, die ihren Bewohnern zu ungastlich waren einer regen Einwohnerflucht unterworfen sind, dürfte klar sein. Und so erwarteten uns immer wieder inmitten der gewaltigen Türme, die einem der großen Länder angehören, langweilige, leere betonierte Plätze, düstere Schutthügel sowie auch selten Gärten zum Anbau anderswo verbotener Pflanzen. Auch die Grenzübergänge wechseln von Mal zu Mal, lediglich die Stadttürme sind durchgängig von klotzigen Festungen abgesichert. An diesen bemerkt man auch immer wieder die steigende Kriegsbereitschaft Amerikas. Die Privatstaaten dagegen führen ihre eigenen Grenzübergänge. Von locker ungesicherten bis hin zu streng bewachten Grenzen findet sich im Schatten der gewaltigen Stadttürme alles. Und dann kamen wir in die VLT.

James beteuerte später immer wieder, nicht gewusst zu haben wo er uns da hinführte, dass es ein unglücklicher Zufall sei, dass wir gerade zu dieser Stunde dort ankamen. Und tatsächlich hielten uns unterwegs einige Staus und Sperren auf, so dass wir vielleicht wirklich nur etwas zu spät ankamen. Tatsache ist aber, dass wir mitten in die Grenzuntersuchungen der VLT gerieten und dies einer der größten Fehler ist, die man begehen kann. Wir waren schon zuvor oft in Kontrollen gekommen, doch keine war so schlimm wie diese. Vor uns stand eine lange Reihe von Wagen, die alle das Gebiet der VLT durchqueren wollten. – Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur eines davon hierzubleiben gedachte.

Nur langsam ging es vorwärts. Stets musste ein Wagen halten; wurde sorgsam überprüft. Wir anderen hatten derweil zu warten, was mir anfangs noch egal war, während mich die Unruhe meiner Mitfahrer bloß wunderte. Dann aber kam ein Wagen an die Reihe, dessen Stellung in der Schlange vor uns die Dritte war. Ich weiß nicht, was geschehen war; weiß nicht, welcher Verbrechen dieser Wagen schuldig war – doch mit Entsetzten erblickte ich, wie der Fahrer aus seiner Maschine gezogen und ihm mit einem kurzen schnellen Ruck einer kräftigen Maschine Kopf samt Rückgrat herausgerissen wurde.

Ab da wollte ich nur noch fliehen. So auch die anderen, doch James sprach, dass das unser Tod sein würde, also hielten wir aus. Wir sollten einfach wie brave Bürger wirken – leichter gesagt denn getan. Ängstlich betrachtete ich die Soldaten, die zu beiden Seiten der Straße Stellung bezogen hatten, und beugte mich James‘ Urteil. Dorothy hielt meine Hand, um mich zu beruhigen. Und dann war es soweit – wir waren an der Reihe. Zwei Soldaten überprüften unseren Wagen derweil links von uns an der Hinrichtungsmaschine die Überreste einiger unglücklicher Fahrer baumelten. Als wir weiterfahren durften, durchfuhr mich gewaltige Erleichterung, doch ertrug ich den Anblick der Toten nicht und schloss die Augen. – Plötzlich wurde unser Wagen angehalten – und alles weitere, an das ich mich noch erinnere, war Schwärze. Ich wurde aus dem Wagen gezogen und niedergeschlagen.

Am nächsten Tag erwachte ich in dieser ungastlichen Zelle, in welcher ich nun immer noch bin. Auf meine Fragen was geschehen sei, was ich denn verbrochen hätte, wurde mir keine Antwort erteilt. Man sagte mir bloß, die Anhörung sei in neun Tagen. In diesen verbliebenen neun Tagen wurden immerhin James und Dorothy je einmal zu mir durchgelassen. James versprach mir jegliche Hilfe, doch sei der Fall wohl aussichtslos; die VLT war nicht dafür bekannt ihre Opfer zu begnadigen. Immerhin aber konnte er mich über mein Verbrechen aufklären: In der VLT sei es Gesetz, den Plakaten einer bestimmten Popikone, Herrscherin dieses Landes, bei jedem Vorbeifahren höchste Achtung zu zollen. Ich aber hatte meine Augen geschlossen gehalten. Dorothy dagegen gab mir vor allem Stärke. Wenngleich wir nicht körperlich beieinander sein konnten, gab sie mir doch in einer Stunde Gespräch alles, was mich zum Leben anspornen kann. Ach Dorothy, könnten wir doch nur von hier fliehen.

Heute sind die neun Tage vergangen; der Tag der Anhörung ist gekommen; gleich werden sie mich holen. James erzählte mir, dass die VLT nur eine Strafe kenne: die Todesstrafe. Diese würden sie auch oft und ohne Zögern sofort nach Verurteilung einsetzen. Das werden also meine letzten Worte sein. Auf dass Dorothy sie wie versprochen wird hinausschmuggeln und veröffentlichen können.

Ich höre Schritte – ich habe Angst.

Dieser Text wurde vor einer Woche diesem Wortlaut folgend in einer Untergrundzeitung abgedruckt. Wir haben ihn hier aufgegriffen, um Gerüchte zu beseitigen. Am Tag als diese Worte geschrieben wurden, kam es tatsächlich zu einer Anhörung der VLT, bei welcher der Verfasser jedoch freigesprochen wurde. In seiner Freude vergaß er die beschriebenen Blätter in seiner Zelle. Während er mit seiner Geliebten abreiste und heimkehrte, fand jemand uns noch unbekanntes diese Blätter und ließ sie veröffentlichen. Wem immer es jetzt also erscheinen mag, dass Amerika ein grausamer Staat ist: Der Autor ist gesund und lebt glücklich mit seiner Gebliebten unter uns hier in Deutschland. Unser geliebter Staat griff über die Grenzen hinweg ein und befreite sie aus der VLT.

Dagegen sind keine der Lügen des Untergrundes war.

 

 

 

ENDE


GaU06 In einer Sommernacht (in Hannover)

Oktober 6, 2013

Keuchend drückte sich Anton in die feuchte dunkle Ecke zwischen zwei Pfeilern des Gebäudes. Sofort hielt er den Atem an. – Nicht auffallen! Und tatsächlich: Wenige Sekunden darauf kam ein Mann in der Straße an. Anton vernahm seine Schritte, sein Zögern, seinen schweren Atem – und schon lief der Mann weiter – genau an ihm vor-bei, doch bemerkte er nichts von ihm.
Endlich konnte Anton aufatmen, als die Schritte wieder verklungen waren. Er musste weg, bevor sie ihn doch noch fänden. Wieviel Zeit wohl noch war? Ein Blick auf sei-ne Uhr offenbarte ihm: gut 15 Minuten. Genug Zeit um vom Bahnhof zum Kröpcke zu gelangen – eigentlich. Denn er wusste nicht, wieviele Männer noch hier draußen im nächtlichen Hannover nach ihm suchen würden, doch es waren sicherlich genug, ihm das Leben zu erschweren.
Vorsichtig blickte er aus seinem Versteck hervor. Niemand war zu sehen – niemand. Seit dem Verhängen von Ausgangsperren war es ungesetzlich, um diese Zeit noch draußen unterwegs zu sein. Das bot ihm Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil war, dass auch Kameras sowie die Einheiten von Armee und Stadtwache gegen ihn wären. Daraus ergab sich aber auch der Vorteil, dass seine Verfolger ihnen ebenso aus dem Weg gehen mussten. Doch irgendwie waren sie auch bereits den Kameras des Bahnhofs entschlüpft – kein gutes Zeichen. Ein Teil von Antons Bewusstsein grübelte über die Frage, wie ihnen dies wohl gelungen sei. Der Großteil jedoch war vollauf mit der Aufgabe zu überleben beschäftigt.
Schräg gegenüber, auf dem weiten offenen Platz, erkannte er das alte Reiterbildnis. Soweit er wusste, überwachte es diesen gesamten Vorhof der Verdammnis. Zeit den Platz großflächig zu umgehen hatte er aber keine mehr; seine 15 Minuten liefen ihm bereits davon. Während er sich bereit machte, überlegte ein Teil von ihm, welchen Weg er zu nehmen hätte. – Und schon war er unterwegs. Geduckt huschte er im Schatten der niedrigen Mauer vor gen Norden und von dort zu den kärglichen Bäumen der kleinen Parkanlagen, immer darauf bedacht, etwas zwischen sich und dem Denkmal zu haben.
Und dann kam der Panzer der Stadtwache um die Ecke.
Gemächlich fuhr er durch die Nacht, der Straße nach Süden folgend. – Während An-ton nach Westen wollte, in die Innenstadt. Die Zeit lief ihm weiter davon, derweil die Kriegsmaschine langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Er konnte unmöglich war-ten, bis sie verschwunden wäre; das wurde ihm schnell klar: Ihre Fahrt würde mehre-re Minuten kosten. Also brauchte er einen anderen Weg – und einen solchen sah er einfach nicht. Es bot sich bloß eine Möglichkeit. Kurz fragte Anton sich, ob sich jemand bei einem Scheitern seinerseits jemals über den Wagemut, den er gleich an den Tag legen würde, wundern oder ihn gar dafür preisen würde. Doch kaum war der Ge-danke gekommen, da verschwand er auch schon wieder – Anton musste all seine Aufmerksamkeit anderem schenken.
Um Zeit zu sparen hatte er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür entschieden, hinter dem Fahrzeug die Straße zu überqueren. An einer Stelle knapp vor der Unterführung standen auf beiden Seiten der Straße Bäume eng an eben dieser – eng genug, dass der Panzer dort kurz keine Sicht nach hinten hätte – zumindest hoffte Anton dies.
Und letztlich schaffte er es die Aufgabe zu meistern, zugleich außerhalb des Blickfeldes sowohl des Denkmals als auch des Fahrzeuges zu bleiben. Kaum hatten er und das Fahrzeug die Bäume erreicht, da ließ Anton sich in die Hocke nieder und bewegte sich in dieser Stellung so schnell es ging auf die andere Straßenseite. Drüben ruhte er sich für wenige Augenblicke aus – nichts war geschehen. Kein Alarm, keine Fahrtunterbrechung des Panzers – er hatte es geschafft. Doch wirkliches Ausruhen durfte es nicht geben – er musste weiter; man würde nicht auf ihn warten.
Auf der anderen Seite der Straße – nun in der Innenstadt – suchte Anton sich den nächstbesten Weg hinunter in die Passage. Dort war es ruhiger und sicherer denn oben in den Straßen – zumindest sprach dies seine Erinnerung. Doch er musste sich überrascht zeigen, wieviel sich seit seinem letzten Besuch in dieser tiefgelegenen Einkaufsstraße getan hatte; alles wirkte abweisender. Die Geschäfte waren natürlich verschlossen und vergittert. Nach links hin führte die Treppe zurück zum Bahnhof; nach Rechts hin ging es zum Kröpcke, seinem Ziel.
Kaum war er unten angekommen, schon ging er rechts zwischen einem Blumenkasten und einem Geschäft in Deckung – sicher war sicher. Laut seiner Uhr hatte er bereits über zwei Minuten verloren; Zeit sich zu beeilen. Von Kasten zu Kasten huschend versuchte er stets im Schatten zu bleiben – jederzeit könnte von oben jemand zu ihm herabsehen. Sein Fehler wurde aber, dass er nicht genug auf die Geschäfte aufpasste. Trotz Ausgangsperren und Stadtwachen schienen einige Kaufleute weiterhin Einbrecher zu fürchten.
Als Anton an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikam, entdeckte ihn dessen Kamera. Lautlos leitete sie den Alarm weiter; gleichzeitig setzte sie die Verteidigungsanlagen in Betrieb: Neben Anton kam raschelnd eine kleine Kanone aus einem der Blumen-kästen gefahren. – Er hatte gerade noch genug Zeit, ein paar Kästen weiterzuhetzen, da eröffnete sie auch schon das Feuer auf ihn. Nachdem die ersten Schüsse verklungen waren, setzte er seinen Weg fort – nun kriechend, bis er den Brückenbogen er-reicht und durchquert und dessen Mauern zwischen sich und der Waffe gebracht hat-te.
Obzwar er nichts von dem Alarm mitbekommen hatte, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schmeckte anders; eine Vorahnung lag in ihr. Und dann sah er das Gitter, das man am nächsten Brückenbogen herabgelassen hatte – das seinen Weg zum Kröpcke versperrte. An den Seiten dieses Bogens waren jedoch auch die nächsten Treppen, über die man die Straße erreichen konnte. Nachdem hier unten nun solche Gefahren lauerten, wäre der obere Weg vielleicht gar nicht so verkehrt. Und doch – oben könnte es sogar noch gefährlicher sein, unter dem Blick der Kameras der gro-ßen Einkaufstempel, die allesamt sicher ihre eigenen Verteidigungsanlagen und Sicherheitsleute hatten. – Nein, lieber wäre er unten in der Passage geblieben, doch welche Wahl bot sich ihm schon? Wie so oft im Leben war die Freiheit der Wahl eine bloß vorgetäuschte.
Vorsichtig machte er weiter seinen Weg hinter den Blumenkästen, jetzt stärker auf verdächtige Vorrichtungen achtend, doch begegnete ihm nichts. – Und dann begann der Krach. Während er noch seine Strecke verfolgend sich gefragt hatte, wie er u-auffällig hinauf kommen sollte, vernahm er plötzlich Stimmen; männliche und auch weibliche Stimmen die miteinander Sprachen, irgendwo oben auf der Straße. Um was es ging vermochte er nicht festzustellen, doch in den Stimmen lagen Anklänge von Gereiztheit und Zorn. Ein Streit schien sich zwischen unbekannten Personen zu ent-wickeln. Anton wusste nicht, ob er froh oder besorgt sein sollte; vielmehr beschäftigte ihn das Verrinnen der Zeit – Er musste dringend auf die andere Seite des Gitters. Im Notfall müsste er rennen, so schnell er könnte – auch wenn dies zu ihrer allen Aufdeckung führen könnte. Diesen Beschluss fassend erreichte er endlich die Treppe und folgte ihr hinauf.
Kurz bevor er oben ankam, sah er vorsichtig auf die Straße – auf seiner Seite schien alles ruhig zu sein – doch auf der anderen Seite standen acht Menschen in ein aufgewühltes Gespräch vertieft. – Anton vermeinte die Kluft der Stadtwache sowie einige Feuerwaffen auszumachen. Nicht unbedingt seine Wunschbestandteile für einen gelungenen Abend. Fast schon kriechend bewegte er sich zwischen eine Bank und die Sicherheitsmauer des Abgrundes zur Passage hin – von dort konnte er sowohl beobachten, als auch sich fortbewegen und blieb doch außerhalb der Sicht des nördlichen Tempels. Die Neugier überwog seinen Zeitdruck und so vertrödelte er absichtlich wichtige Augenblicke, das Schauspiel zu betrachten. Offensichtlich bestand die Menge dort am anderen Ufer aus drei Sicherheitsleuten des dortigen Tempels sowie vier bewaffneten Stadtwächtern. In ihrer Mitte hielten die Templer einen der Männer, die Anton verfolgt hatten, während die Stadtwache versuchte ihn über seine Absichten auszufragen. Es geschah nicht oft, dass die Wächter zuerst fragten bevor sie schossen, doch nützte dies dem Mann auch nicht viel.
Scheinbar wollte er gerade etwas erwidern, da trafen ihn und die ihn Haltenden Schüsse. Sofort suchten die Überlebenden Deckung – und hatten kurz darauf auch genug Zielscheiben, als weitere von Antons Verfolgern aus den Schatten traten und die nächste Brücke überquerten, derweil sie auf die Wächter feuerten. Anton schauderte – hätte er sich schneller bewegt, so hätten diese Männer ihn gesehen. Jetzt blieb ihm aber die Möglichkeit, weiterzukriechen, bis er die hinabführende Treppe hinter der nächsten Brücke erreicht hätte. Auf der anderen Seite schien alles zu sehr mit der Schießerei beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. Kurz vor der Treppe wurde An-ton jedoch fahrlässig: Eine Kamera erfasste ihn und setzte die Waffen des Tempels in Betrieb. Doch er hastete bloß noch weiter und die Treppe hinab in Deckung – derweil die Waffen in dem Kampf auf der anderen Passageseite genug Beschäftigung fanden. Die Verwirrung oben wuchs noch, als von dem stillen Alarm des Bekleidungsgeschäfts alarmiert auch endlich weitere Stadtwächter eintrafen. – Dass all diese Antons Verfolgern jedoch trotzdem weiterhin unterlegen waren, sollte er erst später bemer-ken. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit erstmal dem Weg hinunter an den Fuß des hässlichen Klotzes, der die örtliche Internetüberprüfung beherbergte und sich über seinem Ziel befand.
Der Hof dort unten war karg und wenig genutzt, doch gab es dort immerhin zwei Wachhäuschen der Stadtwächter, die den Weg hinab in den Bahnhof des Kröpckes bewachten. Jetzt war Anton also endlich an den schwersten Teil seiner Reise gelangt. Jedes Haus war von einem bewaffneten Mann besetzt, die beide Befehl hatten selbst bei Krach wie dem an der Oberfläche ihre Posten nicht zu verlassen. – Und natürlich hatten die Schüsse sie trotzdem aufmerksam werden lassen. Im Schatten einer Säule überlegte Anton, wie er an ihnen vorbeikommen konnte, derweil seine Uhr die ihm verbliebenen sechs Minuten ankündigte. Unterdrückt atmend beobachtete er, während der Zeitdruck ihm Schweiß auf die Stirn trieb. Wie könnte er es schaffen an den beiden vorbeizukommen? Und da kam ihm ein Putzroboter unbeabsichtigt zu Hilfe.
Diese kleinen Maschinen waren die einzigen, die unbehelligt die Nacht durchkreuzen durften, ohne dafür erschossen zu werden. Der Kleine steuerte geradewegs auf die Klappe in der Wand weit rechterhand der Wachhäuschen zu. Die Klappe schien groß genug, dass auch Anton dort hindurchpassen würde, also versuchte er sein Glück. Im Schatten der Säulen folgte er der Maschine, die keine Möglichkeiten besaß, ihn zu bemerken, es sei denn als Hindernis, dabei außerhalb der Sicht der Wächter bleibend. Es schien fast zu einfach, doch es klappte. Zwar musste er schrecklich kriechen um der Maschine folgen zu können, doch bald war er drinnen: im Wartungsbereich des Kröpcke.
Endlos schien es durch dunkle enge Tunnel zu gehen, bis er endlich wieder eine Klappe zu einem betretbaren Bereich erblickte. Dort hindurchkriechend erkannte er die große obere Halle des Kröpcke, die nun bei Nacht in Dunkelheit lag, nur schwach erleuchtet von schummrigen blauem Licht. Ob dies eine weitere Abwehrmaßnahme war? Seine Augen konnten kaum etwas fassen, kaum etwas erkennen – alles ver-schwamm vor seinen Augen, die in diesem Licht bloß noch schmerzen konnten. Es schien schrecklich, doch er musste es ertragen. Undeutlich erkannte er immerhin, dass die Rolltreppen hinab zur tiefsten Ebene genau vor ihm lagen, er sein Ziel also schon fast erreicht hatte.
Nun galt es nur noch, in diesem bösartigen Licht den vermutlich vorhandenen Kame-ras aus dem Weg zu gehen und hinab zu gelangen. Doch einfach schien das nicht, konnte er sich in dem Licht doch kaum aufrecht halten. Und doch sah er sowohl fern links den Eingang neben den Propagandaplakaten bewachend sowie auch noch genau über den Rolltreppen je eine sich schwenkende Kamera. Diese galt es also zu umgehen. Doch diesmal half ihm nichts mehr, diesmal gab es keine wundersamen ablenkenden Umstände mehr; auch konnten ihm die Säulen der Halle nicht weiter helfen, denn diese als Deckung nutzend bliebe er trotzdem stets im Sichtbereich einer der Kameras. Er sah aber keine andere Möglichkeiten mehr; er musst einfach einen Lauf versuchen – seine Zeit war immerhin fast abgelaufen. Und selbst wenn die Kameras die Wachen benachrichtigen sollten, könnte er immer noch vor ihnen unten und verschwunden sein.
Also wagte er es: Tollkühn rannte er plötzlich aus der Hocke heraus los und drückte sich in der Mitte der Halle gegen eine Säule, außerhalb der Sicht der Rolltreppenkamera, doch weit im Feld der anderen. – Und nichts geschah. Sollte es möglich sein? – Schnell sah er hinüber zum Eingang und tatsächlich, sie war gerade diesem zugewandt; nur langsam schwenkte sie um zu ihm. Kurz bevor sie ihn doch noch in Sicht hatte, wirbelte er um die Säule herum, der anderen Kamera zu begegnen – und auch diese sah gerade weg, hinab zur Zugebene.
Welch Glück! Dachte er bei sich und hastete die ausgeschaltete Rolltreppe hinab, hinunter in die unterste Ebene, wo sein Zug auf ihn wartete – noch für etwa eine Mi-nute. Auf halbem Wege angelangt sah er sie; all die Züge, die Nacht für Nacht hier schlafen durften, um die von Flüchtlingen überfüllten Straßenbahnhöfe zu entlasten. Und der dort, der ganz hinten – das war seiner.
Doch kaum erreichte er das Ende der Treppe, da geschah es: In seiner Hast hatte er vergessen, dass es hier unten auch Kameras geben mochte. Eine entdeckte ihn – und ihr Alarm war nicht still. Während sein Gleichgewichtssinn noch gegen das schreck-liche blaue Licht kämpfte, wurde nun sein Bewusstsein mit Pfeilen aus reinstem Lärm angegriffen. Taumelnd machte er sich auf den verbliebenen Weg. Ein letztes Mal be-lebte ihn sein Überlebenstrieb, als an den Wänden einzelne Plakate an unsichtbaren Fäden wie Vorhänge gehoben wurden und die Schlünde ihrer Waffen in die Welt hin-aussteckten.
Anton rannte, so schnell wie er noch nie gerannt war, und hinter ihm prallte Kugel um Kugel in die schlafenden Wagen. Fenster barsten, Metall wurde durchlöchert; die Hölle hatte sich ihm hier wahrhaftig eröffnet. – Und dann, mit einem Mal, war alles so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Im letzten Augenblick seiner Zeit erreichte er seinen Zug, während dieser langsam losfuhr. Er suchte sich seinen Weg in ein Abteil der ersten Klasse, wo er sich erschöpft in einem Sessel niederließ. Endlich war es vorbei; endlich konnte er ausruhen. – Oder doch nicht?
Unvermittelt betrat ein Mann sein Abteil, gekleidet wie die ihn verfolgenden Männer und begleitet von ebensolcher zwei. Dann sprach er.
„Anton! – Sie hätten es fast geschafft uns abzuhängen.“
„Leider nur fast.“
Anton verzog das Gesicht. Er wollte doch nur noch schlafen.
„Aber hier sind wir – genau wie sie.“
„Ja – und ich habe gewonnen! Ich habe es in der Zeit hierher geschafft.“
Anton grinste, trotz Müdigkeit und Schmerzen.
Der Mann legte den Koffer, den ihm einer seiner Begleiter gab, neben Anton auf den Beistelltisch.
„Ihre Bezahlung – wie abgesprochen. Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden könnte. Auch wenn die letzte fast ihr Verhängnis geworden wär – wir müssen vieles ausbessern. – Tatsächlich!“
„Ja – ihre Anlagen sind halt doch nicht so gut; ich sagte es ihnen. Schade nur um ihre Leute, die getötet wurden.“
Doch der Mann winkte nur ab.
„Ach, die wussten um ihr Risiko – sie lebten und starben für den Staat, wie wir alle.“ Vielsagend blickte er zu seinen Begleitern, deren Gesichter ausdruckslos blieben. Dann sah er Anton in die Augen. „Sie dagegen sind unabhängig. Auch wenn ich nicht weiß, warum man sie frei und am Leben lässt – scheinbar sind sie nützlich genug.“ Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da schien ihm etwas einzufallen. „Sie wissen ja, der Zug bringt sie auf’s Land. – Darf man fragen, was sie nun vorhaben?“
Müde lehnte sich Anton zurück als halbe Antwort, bevor er sich für eine Entgegnung entschied.
„Schlafen – und dann das Geld ausgeben!“
Und Anton lachte.


GaU05 Am Bahnhof Köln

Oktober 5, 2013

Eine Lautsprecherdurchsage weckte Robert. „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof.“ Erschrocken richtete er sich auf. Waren sie wirklich schon da? – Tatsächlich: Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die aufragenden Blöcke der Großstadt des rechtsrheinischen Ufers, plötzlich unterbrochen durch den Lauf des Flusses.
„Ach, das wurde auch Zeit.“ Der Mann ihm gegenüber räkelte sich und lächelte ihm zu. „Ich kann es kaum erwarten meine Freundin zu sehen.“
Robert nickte seinem Gegenüber in dem auffälligen gelben Regenmantel bloß zu, dann machte er sich fertig. Der Zug wurde bereits langsamer.
Am Bahnhof angekommen glitten die Türen des Zuges vor Robert lautlos zur Seite. Als er mit seinem Koffer den Wagen verließ, stolperte er fast über einen kleinen braunen Hund, der einmal quer über den Bahnsteig lief, verfolgt von einem kleinen Bahnangestellten mit Hut und Schnurrbart. Verwundert ließ Robert von diesem Schauspiel bald ab und trottete in Richtung der Wartehalle. Köln war nicht sein Endziel; ein bloßer Aufenthalt, bevor es weiterginge nach Paris, wo er sich Erholung und Ablenkung erhoffte. Doch bis der nächste Zug käme, würde es noch dauern. Gezwungenermaßen machte er es sich also auf einer Bank der Halle so gemütlich wie möglich. Schweigend betrachtete er die Nachrichten- und Werbebildschirme, doch seine Gedanken drifteten ab. Diana – warum hatte sie ihn verlassen? Hatte er ihr nicht immer alles gegeben, alles für sie getan? Und nun war sie fort und er musste allein von dannen ziehen.
Schnell wurde er in seinem Selbstmitleid unterbrochen, als sich ein älterer Mann neben ihn setzte. Ohne sich vorzustellen oder dazu aufgefordert zu werden, fing dieser an zu reden. „Ach, diese Werbung – dieser neumoderne Schnickschnack! Erinnert mich an die alte Zeit, da wir alle gehorchen sollten. Jetzt ist es wieder so. Helga, meine Frau – sie kauft gerade dahinten in diesen ‚Colonaden‘ ein – wir gehen gleich essen – konnte damals nur knapp entkommen. Heute entkommt dem keiner mehr. Wie froh wir doch sind, dass wir uns haben! – Und sie, haben sie auch jemanden? – Oh, habe ich etwas falsches gesagt?“
Doch schon hatte sich Robert erhoben und ging in Gedanken versunken in Richtung des Bahnsteigs. Er wollte lieber dort warten. Wieder musste er dem Hund samt Angestelltem ausweichen, doch störte sich nicht mehr daran. Während er die Rolltreppe nahm, kam ihm auf der anderen Seite der Mann im gelben Mantel entgegen. Dieser nickt ihm zu, was Robert nicht bemerkte – seine Gedanken waren bei Diana.
„Ach, da bist du ja endlich!“ Der Alte Mann erhob sich, als seine Frau sich näherte. „Hast einen guten Fang gemacht – Seh‘ ich!“ Nun, da Helga zurück war, konnten sie endlich essen gehen. Sein Magen hätte ihn sonst noch aufgefressen. Während sie auf das Restaurant zuhielten, erzählte sie ihm ihre Erlebnisse in den Einkaufsläden. Er dagegen frönte dem, was ihn dreißig Jahre Ehe hatte ertragen lassen: Er ließ seine Gedanken schweifen. Am anderen Ende der Halle sah er einen Mann im gelben Regenmantel stolpern, als ein kleiner brauner Hund an ihm vorbei lief. Kaum hatte er sich wieder gefangen, prallte ein Bahnangestellter mit Mütze und Schnurrbart gegen ihn. Beide fielen hin.
Den Anblick zu köstlich findend, kicherte der alte Mann wie ein kleines Kind und bemerkte nicht, wie Helga ihn daraufhin böse ansah. „Nur weil ich nicht in dieses Kleid gepasst habe bin ich nicht zu dick!“
Verwundert sah er sie an. „Was?“
„Verzeihung!“ Ohne auf eine Antwort von dem Mann in Gelb zu warten lief Norbert weiter, nachdem er sich erhoben hatte. Schnell aber musste er einsehen, dass der Hund ihm entkommen war. Sich und die Welt verfluchend stapfte er zurück zu seinem Häuschen am Bahnsteig. Christa wartete bereits.
„Na? – Hast ihn wohl nicht bekommen?“
Erschöpft ließ sich Norbert auf seinen Stuhl fallen. Das war nicht sein Tag. „Ist irgendetwas passiert?“ Bei seinem Glück hatte er sicherlich etwas aufregendes oder wichtiges verpasst. Doch Christa verneinte nur.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber weißt du – wir können diesen Hund hier nicht so frei rumlaufen lassen! Ruf den Hundefänger! – Und wenn du es nicht tust, mache ich es halt. Danach muss ich dann aber weg, das weißt du. Ich kann nicht ewig hier warten und aufpassen, während du versagst. Karl wartet bestimmt schon!“
Du bist ein Miststück, war das einzige, das Norbert als Erwiderung einfiel. Er setzte dort draußen seine Gesundheit aufs Spiel um wilde Tiere zu jagen, während sie bloß hier saß und auf den Bildschirm starrte. Doch laut auszusprechen wagte er es nicht. „Dann geh; ich mache das schon.“
Freude stahl sich in Christas Züge und wie ein kleines Kind sprang sie auf. „Danke!“
Als er allein war, verfluchte Norbert sie, seine Arbeit sowie sein Leben. Und Zuhause wartete seine Frau.
Christa eilte in Richtung der Wartehalle. Bevor sie dort hingelangen konnte, sah sie den kleinen braunen Hund in Richtung der Züge eilen. – Der Hund! Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit; Karl wartete schon. Doch – in der Wartehalle angekommen wurde sie diesbezüglich enttäuscht. Nirgends ein Karl, bloß zig andere Reisende und Besucher. Traurig setzte sie sich auf eine der Bänke. Seit sie vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass Karl in die Stadt käme, freute sie sich darauf. Und da es diesseits des Flusses nur noch wenig Grund zur Freude gab, wäre ein Treffen umso schöner gewesen. Hatte er sie jetzt vergessen? – Kurz fingen Kriegsbilder auf den Bildschirmen ihre Aufmerksamkeit… und plötzlich wurde es schwarz.
„Rate wer da ist!“
Als sie diese Stimme hörte, wurde sie wirklich zu einem kleinen Kind. Heftig sprang sie auf. Die Hände vor ihren Augen konnten sich gerade noch retten, da fiel sie schon Karl um den Hals. „Karl! Wie habe ich dich vermisst!“ Nach dem ersten Augenblick der Begrüßung trat sie zurück, ihn zu betrachten. „Aber was für ein scheußlicher gelber Regenmantel – als würde Mutter dich immer noch einkleiden.“
Doch Karl lachte nur. „Immer noch das kleine freche Gör! – Aber setz‘ dich – ich habe nicht viel Zeit.“
Jetzt setzte Christa wieder ihr trauriges Gesicht auf. „Du musst schon wieder gehen?“
„Ja, bald – aber keine Angst, ich bleibe in der Stadt für eine ganze Weile. Ich erwarte hier noch jemanden – ich habe mich verliebt!“
„Oh! – Wie schön! – Erzählst du mir von ihr?“
Natürlich kam Karl dem nach. Alles was er konnte, erzählte er ihr in der kurzen Zeit, die er hatte. Er lernte sie daheim in Bochum kennen, durch einen Zufall. Sie war gerade dabei gewesen die Stadt zu verlassen, da sie sich eine Weile zuvor von ihrem Freund getrennt hatte, der sie stets misshandelt hatte, und es deshalb in Bochum nicht mehr aushielt. Ihr Ziel war Köln und er beschloss ihr weiter zu folgen, als sie dann endgültig weggezogen war. Nun war er also auch hier, sie zu treffen und eine Weile bei ihr zu bleiben – und seine Schwester könnte er bei dieser Gelegenheit auch mehrmals besuchen.
Kaum hatte er geendet, da fiel ihm der kleine Hund auf, der erneut durch die Halle rannte. „Ist so etwas nicht verboten?“
Christa folgte seinem Blick und verzog das Gesicht. „Ja, sicher, aber dieser Idiot Norbert schafft es einfach nicht, ihn einzufangen. Ich werde zurückgehen und die Sache selbst übernehmen! – Und du meldest dich, wenn du Zeit hast!“ Damit verabschiedeten sie sich und Christa verschwand wieder in Richtung der Gleise.
Kurze Zeit später wurde Karls Warten endlich beendet. Strahlend erhob er sich und ging ihr entgegen. „Diana! – Wie sehr ich dich doch vermisst habe!“
Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie beschlossen, sich zusammen an einen Getränkestand zu setzten, um sich ihre Neuigkeiten zu erzählen, bevor sie in die Stadt aufbrächen. Karl erzählte ihr, dass er den Staat um Erlaubnis gebeten hätte auch nach Köln ziehen zu dürfen und dass er zuversichtlich sei diese auch zu bekommen. Sie lächelte ihn daraufhin an und meinte eine Überraschung für ihn zu haben, doch sei diese bei ihrer Ankunft im Bahnhof verschwunden. Vielleicht aber würde sie ja noch einmal auftauchen.
Und tatsächlich: Wenig später, als sie bereits ihre Getränke genossen, kam plötzlich der kleine Hund angerannt und sprang Diana mitten auf den Schoß.
„Ach – da bist du ja! Wo warst du denn?“
Während der Hund sie fröhlich anwedelte, kam hinter ihm Norbert japsend an. „Ist das ihrer?“ – Und nachdem er befriedigt war und ihr noch eine Belehrung gehalten hatte, zog er wieder von dannen.
Diana zeigte Karl ihre Überraschung: ihr neues Haustier.
„Du solltest ihn besser anleinen!“
Lachend gab ihm Diana einen Kuss.
Am anderen Ende der Halle beobachtete Robert das Geschehen am Getränkestand. Nun wusste er, warum sie ihn verlassen hatte. Sollte er es wagen sie anzusprechen? – Dieser Bastard! – Doch sein Zug käme gleich. Gebrochenen Herzens trottete er davon, während sich Tränen in seine Augen stahlen.

 


GaT06 Tod in sieben Minuten

Oktober 3, 2013

Blut spritzte – Knochen barsten. Ihren toten Schädel zog er an ihren Haaren hoch, sah ihr kurz höhnisch in die Augen und warf ihn sogleich weg – auf den Müll, wohin er gehörte.

„Dort ist er!“ hörte er eine Stimme schreien.

Und er lief – lief, lief, lief – lief in tiefe schwarze Dunkelheit, tiefe weite Ewigkeit. Doch die Umgebung wandelte sich – Schwarzer Nebel ward bald rot durchzogen. Am Rande des Bewusstseins – ein Objekt – eine Gitarre? – ihre Gitarre! – Doch bald nur mehr Feuerholz. Klimper? – Klimper? – Nimmermehr! Lodernd rotes Feuer – wärmend Geist und Körper – verzehrend Zeichen seiner Tat. Sieben Minuten; mehr brauchte es nicht. – Doch da! Renn! -. Flieh! – Zu spät. Denn der Tod macht nicht halt – macht selbst nicht halt vor seinen Helfern. – Doch alle sind seine Helfer! Sieben Minuten; mehr brauchte es für niemanden.


GaAL11 Die Hexe und die Katzen

August 11, 2013

„Keine Sorge, wir bekommen dich wieder hin!“

Immer wieder sprach sie beruhigend auf das kleine Bündel in ihren Armen ein. Dieses schien nur bedingt auf sie zu achten; zappelte und strampelte lieber. Dann und wann ließ sie ihre Hand durch das Bündel gleiten, berührte den kleinen seidenen Kopf um zunächst zu erschrecken, dann ihn zu streicheln. All ihre Bemühungen schienen aber ohne Erfolg, ohne freudige Annahme. Und als sie die Gasse verließ, wollte sie nur noch verzweifeln.

Warum hatte ihr niemand erzählt, dass ausgerechnet heute, an diesem so schon schrecklichen Tag, auch noch ein Weihnachtsmarkt sei? Jetzt blieb ihr aber keine andere Wahl; der einzige Weg führte über diesen Platz, der von Baum, Menschen und Verkaufshütten verstopft war. Immer wieder anstoßend, immer wieder ausweichend, immer wieder fluchend kämpfte sie sich durch die Massen, erfuhr mehr Nähe als ihr lieb war und musste stets um den Halt ihres Bündels kämpfen, das nicht verloren gehen durfte; dafür liebte sie es zu sehr. Die Menschen aber, die hier immer wieder ihren Weg versperrten liebte sie nicht und mehr als einmal war sie kurz davor sie alle zu verfluchen, zu verwünschen, zu – verhexen. Doch würde sie sich nun zeigen, wäre alles verloren, alles umsonst gewesen. Und so wie es aussah, waren die meisten auch bereits verhext; gingen im Einkaufsdurcheinander des Marktes unter.

Es dauerte eine ganze Weile, sich dort hindurchzudrängen. Einmal stieß sie gegen einen verkleideten Weihnachtsmann, der ihr ein „Ho! Ho!“ hinterherschickte, ein andern Mal gegen einen Stand und warf dabei fast bemalte Glaskugeln herab. Mitten auf dem Platz aber, genau unter dem Baum, rempelte sie jemand so stark an, dass sie ihr Bündel fallen ließ. Die darin eingewickelte schwarze Katze fiel jedoch sanft und wartete bis sie wieder eingesammelt worden war; ängstlich miauend ob der drohenden Massen.

„Ach mein Liebling, sobald wir dich zurückverwandelt haben, kehren wir zurück in das Andere Land und diesen unruhigen Gesellen den Rücken!“

Ein zustimmendes Miauen antwortete ihr. Die Katze wieder einpackend, setzte sie ihren Weg fort.

Dabei bemerkte sie nicht, wie ihr in einigem Abstand eine zweite Katze folgte, die genauso aussah wie die in ihren Armen. Doch auch wenn sie bemerkt worden wäre, hätte diese sich nicht mit ihr verständigen, hätte ihr nicht von dem Irrtum erzählen können, der sie die falsche Katze mitnehmen ließ. Und während so die kleine Hexe – seine kleine Hexe – durch die Dunkelheit eilte und die fremde Katze streichelte, schlich sich ein Schmerz in sein Herz, den er nicht zu vertreiben vermochte.

„Gleich sind wir da; der Doktor wird dir sicher helfen können!“

Das Bündel in ihren Armen schien sie nicht zu verstehen.

Doch tatsächlich waren sie sogleich da, nur noch über den Platz, an Weihnachtssängern vorbei, die Treppen ins Haus hinein und an seiner Tür geklopft. – Doch oh weh, was war das?

‚Über die Feiertage geschlossen.‘

Verzweifelt hämmerte sie an die Tür; irgendjemand musste doch da sein. Doch niemand öffnete. Gut fünf Minuten fuhr sie heftig mit ihrer Tat fort, da schwang eine Tür ein Stockwerk höher auf und ein älterer Mann kam halb die Treppe herab.

„Es ist geschlossen – sehen sie das nicht?“

„Ich muss dringend den Doktor sehen – es ist ein Notfall – ein Zauberspruch wirkte verkehrt!“

Wenig später saßen sie zu Dritt in einer Kammer, die Teil einer größeren Wohnung war: Der Doktor, die kleine Hexe sowie die falsche Katze. Letztere versagte ihnen die Genugtuung ruhig sitzen zu bleiben, strollte lieber hierhin und dorthin, drauf und drüber.

Und von draußen, durch das Fenster, beobachtete die richtige Katze die versammelte Gesellschaft.

Die Kammer war spärlich eingerichtet; außer Tisch und Stühlen noch ein kleiner Ofen; doch selbst dieser Raum barg am Fenster etwas Weihnachtsschmuck. Der Doktor hielt sich jedoch nicht mit Weihnachtsansprachen auf, sondern kam schnell erneut zu der Frage, warum die anderen gekommen waren. Und nun musste die Hexe alles offenbaren. Tatsächlich ließ der Doktor sich davon überzeugen und erkannte den Ernst der Lage. Seine beiden Besucher in sein geheimes Labor führend erklärte er ihnen, was nun zu tun sei. An sich müsste sie ja bloß den Spruch, den sie verwendet hatte, umgekehrt erneut aufsagen, doch reichte das noch nicht völlig – zusätzlich müsste die Katze einen Mistelzweig verspeisen und der Doktor eine seltsame Maschine anwenden, deren Gebrauch er aber nicht genau erklärte. Rein zufällig – denn was zu besitzen wäre zu Weihnachten schon abwegiger? – hatte er sogar einen Zweig auf Vorrat – der Versuch konnte also sogleich starten.

Die Katze zum Fressen zu bringen erwies sich aber als äußerst schwierig. Sie versuchten es mit Vernunft, doch die Katze schien nicht zu verstehen – schon immer war er ein Sturkopf gewesen, so die Hexe –; sie versuchten es mit Gewalt, doch die Katze wehrte sich mit aller Kraft und Krallen; und sie versuchten es mit List. Und endlich, eingewickelt in ein Stück Fleisch, war das Tier bereit den Köder zu schlucken. Ohne zu zögern sperrte der Doktor es sogleich in den Käfig seiner Maschine und warf diese an, derweil die Hexe begann den Spruch rückwärts aufzusagen. – Nichts geschah. Die Katze zeterte und fauchte, da seltsame Funken über ihr Fell glitten, doch blieb sie ganz die Alte.

Und draußen beobachtete die zweite Katze alles durchs Fenster. Nun endlich schien die Zeit gekommen sich zu offenbaren und diesen Thronräuber zu verjagen. Eilig sprang er von seinem Posten, verscheuchte die Gedanken wie die kleine Hexe – seine kleine Hexe – dieses fremde Wesen streichelte, erkletterte eilig die Treppen und kratzte Einlass fordernd an der Tür des Doktors. Als dieser endlich kam zu sehen wer da war, doch verwundert in seiner Augenhöhe niemanden bemerkte, schritt die Katze mit stolzgeschwellter Brust an ihm vorbei und hinein in das Labor. Dort erwartete ihn eine verwirrt dreinblickende Hexe, die ihn zu seinem Ärger immer noch nicht erkannte. Doch immerhin hatte sie bereits den Hochstapler aus seinem Käfig entlassen – hielt ihn streichelnd im Arm! – und ihm damit den Weg geebnet.

Schnell schluckte er ein Stück widerlicher Mistel hinunter und sprang selber in den Käfig, sich dort wie eine Maus fühlend. Als einziger schien immerhin der Doktor, welcher nun ins Zimmer getraten kam, die Lage zu verstehen. Eiligst schloss er das Gerät, warf es an und befahl der Hexe ihren Spruch zu sagen. Kaum hatte sie dies getan, wurde der Katze im Inneren der Maschine plötzlich sehr beengt zumute, denn endlich war sie wieder ein Mann. Als der Doktor ihn herausließ, fiel der erschrockenen Hexe die falsche Katze herab. Schnell wandelte sich Überraschung in Freude.

„Liebster! – endlich bist du wieder du selbst! – verzeih – ich werde nie wieder unbekannte Sprüche versuchen!“

Ihr Mann war ihr darüber aber kaum böse, immerhin zeigte sie doch Reue und er hatte etwas neues erleben können, doch ließ er sie schwören, nie wieder einen fremden Kater zu berühren; auch wenn die Hexe nicht ganz verstand, warum. Der Doktor schien glücklich damit, endlich wieder seine Ruhe bekommen zu können; forderte nur später ein kleines Geschenk aus dem Anderen Land, mit dem er schon immer gute Geschäfte gemacht hatte. Dorthin denn entschwanden die Hexe und ihr geliebter Mann auch bald, wollten sie doch endlich wieder heim – denn sie waren zum Weihnachtsessen geladen.

 

 


GaAL10 Der eifersüchtige Willy

August 4, 2013

„Da meine Süße, dein Essen!“ Er stellte den Teller vor der kleinen buntgefleckten Katze ab. Die gesamte Zeit, während diese nun fraß, saß er daneben und streichelte das kleine Geschöpf. Auf dem Teller befanden sich handgeschnittene Fleischbrocken und andere Leckereien.

Willy knurrte der Magen, als er dies beobachtete. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal so etwas bekommen hatte; so verwöhnt worden war? Starke Eifersucht kroch in seinen Magen und verursachte ihm Bauchschmerzen – oder war es der Hunger? Vor vier Tagen hatte Herr Veronika dieses Kätzchen gefunden und behandelte es seitdem wie ein zerbrechliches Püppchen. Und was war mit Willy? Nur weil er kein süßes kleines Kind mehr war, wurde er ins Abseits geschoben? Einst hatte Herr Veronika geschworen sich um ihn zu kümmern, ihm wie ein Vater zu sein. Jetzt schien das alles vergessen. Wie gern würde er sich über die Behandlung beschweren – doch er konnte ja nicht sprechen.

Als Herr Veronika endlich auch einmal zu ihm kam und ihm ohne ein Wort einen Teller Püree vorsetzte, verging ihm der Appetit. War dies nicht deutlich genug um zu sehen, wie wenig er ihm bedeutete? Enttäuscht schlich er sich aus der Küche; aus dem Haus. Er suchte seine Lieblingsstelle im Garten auf und legte sich dort unter den alten Baum. Sich sonnend grübelte er über Herrn Veronika und das Kätzchen nach und fand sich kurz davor trotz seines Ärgers einzuschlafen.

Da fiel ihm etwas auf die Nase und hielt ihn davon ab: eine schwarze Feder. Verwundert blickte Willy auf – und sah eine dicke fette Krähe davonflattern. Angewidert schüttelte er sich – Krähen konnte er nicht ausstehen – um dann zu sehen, wie zwei Gänse über den Rasen des Gartens angewatschelt kamen. – Gänse? Seit wann gab es hier denn Gänse? Überrascht beobachtete er die beiden, doch sie schienen sich nicht verirrt zu haben; hielten vielmehr genau auf ihn zu.

Wenige Fuß von ihm entfernt hielten sie und streckten die Hälse hierhin und dorthin, als würden sie ihn mustern. Wer seid ihr denn? wollte Willy fragen, doch konnte er ja nicht. Umso erstaunter war er, als sich eine Antwort in seinen Geist schlich. Es musste von den Gänsen kommen, soviel war sicher. Sie nannten ihm ihre Namen – Gänselieschen und Schnatterinchen – und fragten freundlich nach seinem. Willy war eine Weile zu verblüfft um zu antworten, da sah er die Gänse sich bereits beraten, ob er überhaupt denken könne – was er auch tat. Erfreut doch noch eine Antwort zu bekommen beschnatterten die Gänse ihn kurz aufgeregt und forderten ihn sodenn auf, ihnen zu folgen. Willy versuchte noch zu fragen warum und wohin, doch antworteten sie nicht mehr. Zwar hatte er Gänsen noch nie getraut, doch wusste er nichts anderes zu tun denn zu folgen – und obendrein war er sehr neugierig.

Also erhob er sich und stapfte den watschelnden Vögeln hinterher – und sollte noch viel staunen. Zunächst fiel ihm auf, dass er nicht bemerkt hatte, wie das Haus verschwunden war. Nun erschien es ihm aber doch merkwürdig. Das Grundstück lag auf einem Hügel am Rande des Dorfes, dessen Spitze der Baum krönte, unter welchem Willy gelegen hatte. Da er sich auf der dem Haus abgewandten Seite befunden hatte, war ihm das Verschwinden nicht weiter aufgefallen. Als sie sich jetzt den Hügel hinab begaben, wirkte dieser aber seltsam leer. Wo waren die Zäune, Blumen, Wege? Da wunderte es ihn kaum, am Fuß des Hügels auch keine Straße anzutreffen. All die Autos, die täglich lärmend das Haus passierten – sie würde er nicht missen; etwas gutes hatte die Sache also schonmal.

Dann kamen sie auf die Wiesen und noch immer gab es keine Anzeichen von Menschen. Was war geschehen? – und – Wohin gingen sie? Mehrmals versuchte Willy die Gänse zu befragen, doch antworteten sie nie. Es schien aber, als führten sie ihn ins Dorf – wenngleich er sich nicht sonderlich überrascht zeigte, dieses nicht vorzufinden. Doch immer noch waren dort der Fluss und dessen Insel. Offenbar ging es darauf zu. Sie war hoch mit Gräsern bewachsen, weshalb Willy nichts auf ihr erkennen konnte. Überhaupt war das ganze Land wesentlich stärker bewachsen als sonst; es wirkte so – natürlich. Es war schwer für ihn sich zu entscheiden, ob er dies begrüßte, denn gäbe es keine Menschen mehr – wie sollte er dann an Unterkunft und Nahrung kommen? Er war noch nie ohne Fürsorge gewesen.

Und dann kam das Wasser. Natürlich war die Brücke verschwunden, doch müssten sie wirklich durch den Fluss waten? Willy, der nicht schwimmen konnte, war Wasser noch nie geheuer gewesen. Da die Gänse aber weder mit sich reden ließen noch ihn überhaupt beachteten, musste er wohl oder übel auch hinein. Wie feucht und kalt es doch war! Aber zumindest ertrank er nicht wie befürchtet, reichte das Wasser doch selbst den Gänsen nur bis an den Bürzel. Auf der Insel angelangt durchtraten sie die Reihen von Schilfrohr und Gräsern – an deren Rande Willy erstaunt stehenblieb.

Die Gänse watschelten gemütlich weiter als gäbe es nichts besonderes und schlossen sich dem bereits wartenden Kreis der Tiere an, die nun wiederum alle Willy anstarrten. Alles mögliche war dort in einem Kreis auf der Insel versammelt: Hunde, Katzen, Gänse, Enten, Kühe, Mäuse, Schafe, Schweine, Pferde und zahlreiche andere Tiere von Hof und Land. Willy fühlte sich unter ihren Blicken plötzlich sehr klein.

Und dann fingen auch noch die Gänse an zu schnattern. Sie stellten Willy vor und erklärten, er würde in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollen – wollte er das? – Ja, das wollte er, sprachen die Gänse. Da antwortete eine große Kuh, er müsse zunächst beweisen der Gemeinschaft wertvoll sein zu können. – Aber er wollte doch gar nicht… – Willy kam nicht zu Wort. Einige der Tiere plapperten ob dieser überraschenden Umstände wild durcheinander. So kam es, dass niemand die Annäherung der dicken fetten Krähe bemerkte. Unerwartet schoss sie aus dem Nichts und stürzte sich zielgerichtet auf etwas im Kreis der Tiere. Als diese sie endlich bemerkten, war sie auch schon wieder auf dem Rückflug – und hielt etwas in den Krallen.

Es ertönte Gekreische, Gebell, Geblöke und vieles anderes zwischen den Versammelten, als ihnen gewahr wurde, dass ihr jüngstes Mitglied, ein kleines Kätzchen, entführt worden war. Es dauerte noch eine Weile, bis ein großer Hund mit Hilfe einiger anderer die Aufregung mindern konnte. Willy erfuhr schnell, dass bekannt war, wo diese Krähe leben würde und dass einer der ihren dem Kätzchen zu Hilfe kommen müsste. Die Wahl fiel hierbei schnell auf Willy, stand doch noch seine Probe aus. Nun also wäre seine Gelegenheit gekommen, sich der Gemeinschaft als würdig zu beweisen. – Aber – Doch wieder konnte Willy keinen Widerspruch einlegen; schon war er zusammen mit einem Eichhörnchen auf dem Weg.

Warum ihn gerade ein Eichhörnchen begleiten sollte, vermochte er nicht zu verstehen. Das Tier konnte kaum eine Sekunde stillhalten und flutete Willys Gedanken mit ununterbrochenem Geplapper. Bald wusste dieser mehr über Bausuche, Futterplanung und Gefahren für Eichhörnchen als ihm lieb war. Doch dann und wann ließ das Wesen auch nützliche Bemerkungen fallen. So war das Kätzchen ein Sohn des großen Katers, dessen Stimme im Rat der Tiere so wichtig war. Dieser Rat kümmerte sich gemeinsam um diese Region des Anderen Landes, in dem Willy sich nun befand. Scheinbar gab es viele solcher Regionen und nicht alle waren wie diese, doch alle waren frei von Menschen, sofern diese sich nicht in den Welten verirrt hatten. Willy kam das alles sonderlich verwirrend vor und gerne hätte er nicht zugehört, hätten die Gedanken nicht seine eigenen durchdrungen. So bemerkte er nicht, dass sie bereits ihr Ziel erreicht hatten, während er noch versuchte seine Eindrücke zu ordnen.

Auf einem hohen, dicht bewachsenen Baum sollte das Nest der Krähe liegen. Nun zeigte sich auch der Grund zur Wahl eines Eichhörnchens als Wegbegleiter – gewandt und unerkannt huschte das kleine Tiere den Baum hinauf die Lage zu erkunden – die Krähe war fort, doch das Kätzchen saß ängstlich in deren Nest – und das Eichhörnchen war nicht stark genug es herunterzubringen. Willys Aufgabe war also klar: Er sollte in den Baum klettern um das Kleine zu retten. – Willy hasste Klettern wirklich sehr. Doch mittlerweile schien es ihn keine andere Möglichkeit mehr zu geben als mitzuspielen – nirgends gab es mehr Menschen, also wer außer den Tieren sollte ihm nun noch helfen können? Wagemutig erklettert er die große Pflanze. Nachdem ihm einige Male schwindlig geworden war, schaffte er es letztlich, sich das miauende Etwas zu schnappen und sogar wieder heil hinab auf den Erdbogen zu gelangen. Und da begannen die Probleme.

Kaum, dass sie sich auf den Heimweg machten, erschien ein schwarzes Ding am Himmel: die Krähe. Schnell hatte sie die Lage erkannt und stürzte such auf die Flüchtenden, immer wieder nach Willy pickend. Da sprang plötzlich das Eichhörnchen die Krähe an, biss und rupfte ihr Federn aus.Krächzend verschwand das Biest daraufhin.

Zurück bei den Tieren wurde Willy – aber auch das Eichhörnchen – wie ein Held gefeiert. Seiner Aufnahme in ihren Kreis stand damit nichts mehr im Weg. Doch als Willy nun endlich frei sprechen durfte, wünschte er nur den Heimweg zu erfahren; Herr Veronika würde ihn sicherlich bereits brauchen. Die Tiere waren enttäuscht, aber willigten schließlich ein. Da kam das gerettete Kätzchen auf ihn zu…

…und stupste ihn an. Verschlafen öffnete er die Augen. Was war geschehen? Freudig erkannte er, dass er wieder daheim war und konnte nicht einmal dem Kleinen vor sich mehr böse sein. Kurz darauf kam auch Herr Veronika an.

„Ach, Willy, da bist du ja! Böser Kater – ich hab‘ mir schon Sorgen gemacht! – Es ist doch Kuschelzeit für mich und meine Lieblingsschmusekatze!“

Willy miaute zur Antwort nur erleichtert und fing an zu schnurren. Vielleicht war alles doch nicht so schlimm…