GaU08 Nach dem Unglück

Oktober 20, 2013

I.

Bert war der Name des Insassen, so das Schild neben den Gitterstäben. Irgendwie passend. Benno stierte durch die Schlitze. Drinnen, in einem kleinen ungemütlichen Verschlag ohne Einrichtung, stand der Gefangene stumm und starr. Es schien fast, als wartete er auf etwas. Selten einmal benutzte Bert auch seine Gliedmaßen für einen kleinen Spaziergang, an dessen Ende er meist immer wieder an dieselbe Stelle der Wand lief – und dies solange wiederholte, bis man ihn davon abhielt. Danach war er still bis es Stunden später wieder anfing. Und er war nicht der einzige; fast jeder ihrer Gäste hier verhielt sich so.

Aber gut, dachte Benno bei sich, wenn man aussah wie ein wandelnder Unfall und auch nach dem roch, was man war – mehrere Wochen altes totes Fleisch – war es vielleicht nur vernünftig, sich frühzeitig den Schädel einzurennen. Einem war es sogar mal gelungen, so ihren Fängen zu entkommen. Seitdem galt es die kleinen Stinker stetig zu bewachen. Warum man sie nicht einfach festband, konnte Benno nicht verstehen. Auch wusste niemand, warum sie sich überhaupt so verhielten. Wirkliche Vernunft jedenfalls schienen sie nicht zu besitzen; keiner ihrer zahllosen Versuche hatte in der Hinsicht je Ergebnisse gebracht. Also galt es eigentlich nur herauszufinden, warum sie so waren und wie man sie bekämpfen oder verwerten könne.

Ihm, Benno, missfiel es gründlich, ständig auf das Pack aufpassen zu müssen. Wenn sie nicht gerade gegen die Wände liefen – stets gen Norden – waren die Insassen nämlich äußerst langweilig. In Gefangenschaft waren sie seltsam harmloser denn in freier Wildbahn. Bert beobachten machte ihm kaum noch Freude. Dann und wann nahm er in solchen Momenten einen Stab und stocherte nach den Gefangenen oder schmiss einen Stein auf sie – ohne dafür aber auch nur ein Zucken zu bekommen.

Nun stand er genau vor den Stäben; dem einzigen, das ihn von dem wandelnden Toten trennte; spürte nicht einmal Angst, nur – Abscheu und – Langeweile. Versuchsweise streckte er seinen Arm durch die Stäbe – und zuckte sofort erschrocken zurück; so stark, dass er sich den Arm prellte.

„Hör endlich auf sie ständig zu ärgern – sonst ärgern sie eines Tages zurück!“

Mit dem Gesichtsausdruck eines ertappten Jungen drehte er sich eilends um. Musste Anna immer so überraschend kommen? Irgendwann brächte sie ihn noch dazu, auch zu den Vermodernden zu gehören.

„Ich löse dich hier ab – du sollst mal ins Labor – da kannst du weniger anstellen.“

Benno gehorchte nur und murmelte eine Verfluchung, als er den Zellentrakt verließ.

 

II.

Die Einöde stank. Wo er auch hinsah, erblickte Benno nur endlos scheinende Felder. Eigentlich war er ja bloß eine Stunde Weg von der Stadt entfernt, doch erschien es ihm wie eine andere Welt. Wo sollte sich hier, im Nirgendwo, schon ein sich nicht setzen, nicht hinlegen, nur stets weiter stumpf vor sich hin wandeln könnender Toter schon verstecken? Benno war kurz vorm Verzweifeln – doch er suchte ja auch erst eine Stunde. Zum Glück war Bert bei Sonnenaufgang ausgebrochen, so hatte Benno nun den ganzen Tag Zeit nach ihm zu suchen.

Annas Worte geistig wiederholend brach er in Selbstmitleid aus. Warum er? Es war nicht seine Schuld! Auch er hatte menschliche Bedürfnisse, auch er musste mal austreten dürfen. Der Rest erschien ihm sowieso schleierhaft. Wie hatte der alte Bert sich befreien und unerkannt durch den Keller zum Hinterausgang gelangen können? Dies schien unmöglich ohne fremde Hilfe, doch der Anschuldigung es gewesen zu sein verwehrte sich Benno natürlich. Immerhin aber war niemand zu Schaden gekommen, niemand verletzt worden – sah man einmal davon ab, dass Bennos Würde durch diese Strafe mehr als geknickt war. Wenigstens hatte man ihm einen Schockstab mitgegeben, den er nun gut als Wanderstab nutzen konnte. So gewappnet spazierte er weiter gen Norden, immer wieder nach Bert Ausschau haltend.

Mit der Zeit fragte er sich, ob er wohl irgendwo, irgendwann irgendwas zu essen finden würde, das nicht auch schon bereits von Bert angeknabbert wäre. Doch er wusste genausogut wie alle anderen, dass hier draußen keine Menschen mehr lebten, seit die Unfälle und die damit verbundenen Heimsuchungen durch Tote geschehen waren. Ein riesiges Gebiet, dass leer und wüst dalag, obwohl schon lange alle Auferstandenen erlegt oder gefangen genommen wurden. Und dies soll einst ein Freizeitparadies gewesen sein?

Nach etwa einer weiteren Stunde veränderte sich die Landschaft endlich. Unermüdlich war Benno den schleifenden Spuren des Wandelnden gefolgt, die sich schnurgerade durch die Öde zogen und hatte als Abwechslung bloß seine Gedanken, die sich wunderten, wie solch ein langsames Geschöpf trotzdem solch einen Vorsprung haben konnte. Und dann tauchten allmählich am Wegesrand vereinzelte Baumgruppen auf und plötzlich stand er inmitten der Ruinen.

Einst muss dies eine kleine Stadt gewesen sein; nun war sie nur noch Schutt und Staub. Vereinzelt ragten Überreste auf – Mauerteile; selten bildeten sie noch vier Wände, wenige hatten mehr als ein Stockwerk und keines ein Dach. Es gab jedoch genug Möglichkeiten, sich hier zu verstecken, selbst wenn man es nicht wirklich versuchte – oder es versuchen konnte. Der Ort  schien nach einem großen Feuer aufgegeben worden zu sein, vermutlich zu der Zeit als sich die Toten erhoben. Trotzdem erkannte Benno hier und da Knochenteile in den Trümmern aufragen, die nicht so alt wirkten. Ob sich in der Zeit zwischen damals und seinem Auftauchen wohl nochmal jemand hierher verirrt hatte? Möglich wäre es, da zwar das gesamte Gebiet umzäunt, doch nur stellenweise bewacht war. Niemand würde sich die Mühe machen Menschen, die sich freiwillig in Gefahr begaben, von ihrem Schicksal abzuhalten und die Wandelnden könnten die Zäune niemals erklimmen.

In diese Gedanken versunken bemerkte er die Bewegung am Ende der Straße erst spät – etwas torkelte und schlurfte dort langsam vor sich hin. Konnte es sein? – Ja, endlich hatte er Bert entdeckt; er trug sogar immer noch seine Gefängnis-Kleidung. Hastig verschwand Benno zwischen den Überresten eines Hauses und lugte zum offenen Fenster hinaus, doch der Tote schien ihn nicht bemerkt zu haben. Nun, da er ihn gefunden hatte, sollte es seine Aufgabe sein, den Flüchtigen mit dem Schockstab zu betäuben, festzusetzen und die anderen zu benachrichtigen, dass sie ihn abholen mögen. Doch fangen sollte er ihn allein; das war Teil der Strafe.

Vorsichtig folgte er Bert durch die Ruinen soweit es ging, derweil dieser über die Hauptstraße wankte. Als es keine andere Wahl mehr gab, wollte er es wagen: den Schutz verlassen, sich nähern, zuschlagen. Doch gerade als er einen Fuß ins Freie setzen wollte, erschien aus einer Seitenstraße ein weiterer Wandelnder. – Und da, auf der Hauptstraße, aus der Richtung aus der Benno gerade gekommen war: noch einer. Auch aus anderen Richtungen erschienen welche, so dass letztlich fünf Gestalten Bert gen Norden folgten, alle stumm, doch alle gleich widerlich anzusehen. Benno überlegte was zu tun sei und entschloss sich zu folgen.

 

III.

Der Weg der Toten führte sie einmal durch die Stadt gen Norden. Benno versuchte so gut es ging Schritt zu halten und zu folgen ohne dabei selbst erblickt zu werden, was sich als überraschend schwierig erwies. Zwar achteten die Verfolgten nicht auf ihre Umgebung, wanderten nur stets still weiter, entweder Bert folgend oder zumindest dieselbe Richtung einschlagend, doch kamen immer weitere hinzu. Mehr als einmal erschrak Benno selbst halb zu Tode, als aus irgendeiner Seitenstraße ein neuer stiller Tod erschien und sich der Herde anschloss. Wann immer er nicht um seine Gesundheit fürchtete, fragte Benno sich, wo diese wohl hinstreben mochten. Was gab es da im Norden, dass sie alle so anzog?

Mittlerweile war ihm auch aufgefallen, dass er die Größe des Ortes unterschätzt hatte, denn immer noch durchschritten sie Ruinen und die Häuser schienen zu wachsen. Dann plötzlich erreichten sie ein gewaltiges Gebäude mit angeschlossener riesiger Halle: ein Bahnhof. Auch dieser wies überall Spuren des Verfalls auf, doch lange nicht so stark wie der Rest der Stadt. Aus allen Himmelsrichtungen sah er die Verwesenden kommen und über einen großen Platz durch die Haupttore des Gebäudes strömen; doch die meisten kamen aus Süden.

Fast zwei Stunden musste er in Deckung warten, bis endlich auch der letzte Strom abbrach; dann wagte er es. Sich die Treppe zum Bahnhofstor hochschleichend verfluchte er sich selbst für seine Tollkühnheit, doch da war es schon zu spät und er im Gebäude. Dort hatte er gerade noch Zeit sich ein Versteck zwischen zwei Pfeilern zu suchen, als es begann.

Die Toten hatten sich im Halbkreis in der Haupthalle versammelt und verharrten still, da kamen weitere aus Richtung der Gleishallen. Diese sahen anders aus; älter und verfallener. Vielen fehlten Gliedmaßen, einige konnten kaum noch richtig gehen. Diese alle, still wie der Rest, kamen vor den Halbkreis und verharrten da. Und dann plötzlich stürzten sich die Versammelten langsam, doch gewiss auf die Alten; zehrten von ihnen; erlösten sie.

Bennos aber wurde schlecht. Er blieb in seinem Versteck, bis das Festmahl beendet war, die jungen Toten Überreste mit hinaus in die Stadt zerrten und verschwanden. Erst nach einer langen Zeit wagte er die Heimkehr; er hätte viel zu berichten.

 

ENDE

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GaU07 Ein Deutscher in Amerika

Oktober 13, 2013

Dies ist mein letzter Tag auf Erden. Bald werden sie mich holen. Mein Leben habe ich verwirkt – und nur, weil ich Freunde in Amerika besuchen wollte und nicht genug über dieses Land wusste. Ich weiß nicht, wer dies einst lesen sollte, doch will ich die Wahrheit erzählen, die man mir hier gestohlen hat. Ich hoffe, diese Schilderung wird heim gebracht, damit der Staat von den Vorgängen hier erfährt.

Es ist schon sonderbar – obwohl Amerika und Europa bereits eine Weile als Ameropa vereint sind, wurde die Trennung eigentlich nur noch schlimmer. Doch glücklicherweise scheint das System nicht überall durch, hat nicht alle Lebenslagen durchdrungen: Ich besaß Freunde in Amerika, wie soviele bei uns; Freunde, die mir jetzt nicht mehr helfen können. Vor wenigen Monaten schrieb mir mein alter Freund James, den ich einst zu Studienzeiten daheim in Deutschland kennengelernt hatte, als die Grenzen noch nicht so verwickelt waren, ob ich ihn und seine Familie nicht einmal besuchen kommen möchte. Der Zeitpunkt war gut gewählt, wusste er doch, dass mein Studium nun vorbei war und ich Zeit zu überbrücken hatte, bis der Staat mir Heim und Arbeit zuweisen würde.

Ich war viel zu unwissend, dies war mein Verderben. Die Reisepapiere zu bekommen war bereits eine große Anstrengung. Vermutlich wäre es besser gewesen, hätte man mir die Ausreise nicht erlaubt. Doch letztlich bewilligten sowohl der Staat als auch Amerika diese. Freunde zu besuchen sei ja kein Vergehen, hieß es da noch scherzend von einem Beamten. Ich war sehr gespannt, wie Amerika jenseits der Nachrichtensperren aussah. Und dann ging alles sehr schnell. Seitdem die Fernreisemittel in staatlicher Hand sind, verläuft zumindest das Reisen zügig. Vor zwei Wochen kam ich hier in Los Angeles an. – In der Stadt Los Angeles, auf deren Gebiet ich mich befinde – und doch wieder nicht.

James ließ mich freundlicherweise vom Flughafen abholen und zu sich bringen. Der Flug zu ihm verwehrte mir jegliche Ansicht der Stadt, die mich hätte warnen können. Seine Familie besitzt eine eigenständige Villa, hoch oben auf dem Grün einer der Stadttürme. Der Flug dort hinauf und die Aussicht von oben behagten mir gar nicht, schon immer hatte ich Höhenangst. Kaum, dass James mich begrüßte, erklärte er mir auch schon die Umstände. Dass seine Familie reich war wusste ich ja bereits, doch nicht, wie sie lebten: so hoch oben auf einem Turm. Seit Los Angeles jedoch ebenso wie andere Gebiete des Landes teilweise an zahlreiche kleinere private Staaten verkauft worden war, musste man zur Landnutzung im restlichen Gebiet immer weiter in die Höhe bauen. Ich hätte damals besser auf die weiteren Schilderungen der amerikanischen Verhältnisse achten sollen – doch wenige Tage später bekam ich sie am eigenen Leibe zu spüren. Diesen Tag meiner Ankunft will ich jedoch als letzten schönen Tag meines Lebens behalten. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte er mich seiner Familie vor: Emma, seiner Frau, sowie seinen Geschwistern Dorothy und Virgil, die beide noch mit im Haus der Familie wohnten. Oh Dorothy, verzeih mir diese Qual, in die ich dich stürzte!

Den ersten Tag ließ James mir noch zur Umgewöhnung, am zweiten zeigte er mir den Stadtturm, am dritten gab es eine große Feier seiner Familie und Freunde. Der Anlass schien ausgerechnet die Entscheidung Amerikas zum Beitritt in den asiatischen Krieg zu sein. – Und auch wenn James mehrmals beteuerte, dass er nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stelle, fühlte ich mich dennoch betrogen. An diesem Abend war allerlei hohes Getier anwesend und trank und redete feuchtfröhlich miteinand. Während ich anfangs es noch bevorzugte abseits zu stehen, führte mich später Dorothy hinaus auf den Dachgarten des Turmes, zwischen all den anderen Villen hindurch bis zu einer der Begrenzungen, von denen man Stadt und Land betrachten konnte. Im Dunkel wirkte es freundlicher als einen Tag darauf. Dorothy und ich unterhielten uns gut an diesem Abend; wir verstanden uns! – Dorothy, wie gerne hätte ich dich mit in meine Heimat genommen.

Am nächsten Morgen dann lud James uns ein, eine Fahrt durch die Stadt zu unternehmen. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich hätte abgelehnt. Zu Viert machten wir uns auf den Weg: James am Steuer, Virgil daneben, ich mit Dorothy auf der Rückbank. Emma bevorzugte es daheim zu bleiben. – Welch weise Entscheidung. Zunächst einmal hatten wir von der Villa herab durch den Turm in die Straßen zu kommen, bestand James doch darauf ein altmodisches Auto zu nehmen. Glücklicherweise ersparte da der Lastenaufzug uns eine lange Fahrt. Und kaum waren wir in den Straßen, erwartete mich eine böse Überraschung. Viel hatte ich über den Wandel Amerikas der letzten Jahre gehört, fast alles tat ich als Gerücht ab, ließ das Land doch kaum Neuigkeiten selber ins Ausland strömen – und auf nichts dort draußen war ich wahrhaftig vorbereitet.

So kam es dann, dass ich staunend allerlei Fragen stellte, während wir durch die engen Häuserschluchten fuhren. Tatsächlich gehören die meisten Teile der Stadt verschiedenen Privatstaaten. Wie James mir – erneut – erklärte, besteht Amerika nur noch aus einer Handvoll größerer Staaten. Das ganze restliche Land, welches kaum einen Bruchteil des Ganzen ausmacht, müssen sich die Privatstaaten teilen. Natürlich gibt es hierbei mehr Nachfrage denn Angebot, so dass sich die Preise schnell erhöhten. Um dennoch zum Zuge zu kommen entschlossen einige Nachfrager sich zusammenzutun. Dies ist die Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass wir einige Stadt- und Landteile durchfuhren, in denen sich zu einer festgesetzten Uhrzeit plötzlich die Flaggen änderten: Der Besitzer der Stunde war nun dran. Das wieder führt zu teils seltsamen Begebenheiten, denn oftmals wechseln auch ganze Gesetzessysteme mit den Besitzern. Wo in einem Moment das freie Paradies liegt, kann im nächsten schon ein Arbeiterstaat hocken. Dass dabei Länder, die ihren Bewohnern zu ungastlich waren einer regen Einwohnerflucht unterworfen sind, dürfte klar sein. Und so erwarteten uns immer wieder inmitten der gewaltigen Türme, die einem der großen Länder angehören, langweilige, leere betonierte Plätze, düstere Schutthügel sowie auch selten Gärten zum Anbau anderswo verbotener Pflanzen. Auch die Grenzübergänge wechseln von Mal zu Mal, lediglich die Stadttürme sind durchgängig von klotzigen Festungen abgesichert. An diesen bemerkt man auch immer wieder die steigende Kriegsbereitschaft Amerikas. Die Privatstaaten dagegen führen ihre eigenen Grenzübergänge. Von locker ungesicherten bis hin zu streng bewachten Grenzen findet sich im Schatten der gewaltigen Stadttürme alles. Und dann kamen wir in die VLT.

James beteuerte später immer wieder, nicht gewusst zu haben wo er uns da hinführte, dass es ein unglücklicher Zufall sei, dass wir gerade zu dieser Stunde dort ankamen. Und tatsächlich hielten uns unterwegs einige Staus und Sperren auf, so dass wir vielleicht wirklich nur etwas zu spät ankamen. Tatsache ist aber, dass wir mitten in die Grenzuntersuchungen der VLT gerieten und dies einer der größten Fehler ist, die man begehen kann. Wir waren schon zuvor oft in Kontrollen gekommen, doch keine war so schlimm wie diese. Vor uns stand eine lange Reihe von Wagen, die alle das Gebiet der VLT durchqueren wollten. – Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur eines davon hierzubleiben gedachte.

Nur langsam ging es vorwärts. Stets musste ein Wagen halten; wurde sorgsam überprüft. Wir anderen hatten derweil zu warten, was mir anfangs noch egal war, während mich die Unruhe meiner Mitfahrer bloß wunderte. Dann aber kam ein Wagen an die Reihe, dessen Stellung in der Schlange vor uns die Dritte war. Ich weiß nicht, was geschehen war; weiß nicht, welcher Verbrechen dieser Wagen schuldig war – doch mit Entsetzten erblickte ich, wie der Fahrer aus seiner Maschine gezogen und ihm mit einem kurzen schnellen Ruck einer kräftigen Maschine Kopf samt Rückgrat herausgerissen wurde.

Ab da wollte ich nur noch fliehen. So auch die anderen, doch James sprach, dass das unser Tod sein würde, also hielten wir aus. Wir sollten einfach wie brave Bürger wirken – leichter gesagt denn getan. Ängstlich betrachtete ich die Soldaten, die zu beiden Seiten der Straße Stellung bezogen hatten, und beugte mich James‘ Urteil. Dorothy hielt meine Hand, um mich zu beruhigen. Und dann war es soweit – wir waren an der Reihe. Zwei Soldaten überprüften unseren Wagen derweil links von uns an der Hinrichtungsmaschine die Überreste einiger unglücklicher Fahrer baumelten. Als wir weiterfahren durften, durchfuhr mich gewaltige Erleichterung, doch ertrug ich den Anblick der Toten nicht und schloss die Augen. – Plötzlich wurde unser Wagen angehalten – und alles weitere, an das ich mich noch erinnere, war Schwärze. Ich wurde aus dem Wagen gezogen und niedergeschlagen.

Am nächsten Tag erwachte ich in dieser ungastlichen Zelle, in welcher ich nun immer noch bin. Auf meine Fragen was geschehen sei, was ich denn verbrochen hätte, wurde mir keine Antwort erteilt. Man sagte mir bloß, die Anhörung sei in neun Tagen. In diesen verbliebenen neun Tagen wurden immerhin James und Dorothy je einmal zu mir durchgelassen. James versprach mir jegliche Hilfe, doch sei der Fall wohl aussichtslos; die VLT war nicht dafür bekannt ihre Opfer zu begnadigen. Immerhin aber konnte er mich über mein Verbrechen aufklären: In der VLT sei es Gesetz, den Plakaten einer bestimmten Popikone, Herrscherin dieses Landes, bei jedem Vorbeifahren höchste Achtung zu zollen. Ich aber hatte meine Augen geschlossen gehalten. Dorothy dagegen gab mir vor allem Stärke. Wenngleich wir nicht körperlich beieinander sein konnten, gab sie mir doch in einer Stunde Gespräch alles, was mich zum Leben anspornen kann. Ach Dorothy, könnten wir doch nur von hier fliehen.

Heute sind die neun Tage vergangen; der Tag der Anhörung ist gekommen; gleich werden sie mich holen. James erzählte mir, dass die VLT nur eine Strafe kenne: die Todesstrafe. Diese würden sie auch oft und ohne Zögern sofort nach Verurteilung einsetzen. Das werden also meine letzten Worte sein. Auf dass Dorothy sie wie versprochen wird hinausschmuggeln und veröffentlichen können.

Ich höre Schritte – ich habe Angst.

Dieser Text wurde vor einer Woche diesem Wortlaut folgend in einer Untergrundzeitung abgedruckt. Wir haben ihn hier aufgegriffen, um Gerüchte zu beseitigen. Am Tag als diese Worte geschrieben wurden, kam es tatsächlich zu einer Anhörung der VLT, bei welcher der Verfasser jedoch freigesprochen wurde. In seiner Freude vergaß er die beschriebenen Blätter in seiner Zelle. Während er mit seiner Geliebten abreiste und heimkehrte, fand jemand uns noch unbekanntes diese Blätter und ließ sie veröffentlichen. Wem immer es jetzt also erscheinen mag, dass Amerika ein grausamer Staat ist: Der Autor ist gesund und lebt glücklich mit seiner Gebliebten unter uns hier in Deutschland. Unser geliebter Staat griff über die Grenzen hinweg ein und befreite sie aus der VLT.

Dagegen sind keine der Lügen des Untergrundes war.

 

 

 

ENDE


GaU06 In einer Sommernacht (in Hannover)

Oktober 6, 2013

Keuchend drückte sich Anton in die feuchte dunkle Ecke zwischen zwei Pfeilern des Gebäudes. Sofort hielt er den Atem an. – Nicht auffallen! Und tatsächlich: Wenige Sekunden darauf kam ein Mann in der Straße an. Anton vernahm seine Schritte, sein Zögern, seinen schweren Atem – und schon lief der Mann weiter – genau an ihm vor-bei, doch bemerkte er nichts von ihm.
Endlich konnte Anton aufatmen, als die Schritte wieder verklungen waren. Er musste weg, bevor sie ihn doch noch fänden. Wieviel Zeit wohl noch war? Ein Blick auf sei-ne Uhr offenbarte ihm: gut 15 Minuten. Genug Zeit um vom Bahnhof zum Kröpcke zu gelangen – eigentlich. Denn er wusste nicht, wieviele Männer noch hier draußen im nächtlichen Hannover nach ihm suchen würden, doch es waren sicherlich genug, ihm das Leben zu erschweren.
Vorsichtig blickte er aus seinem Versteck hervor. Niemand war zu sehen – niemand. Seit dem Verhängen von Ausgangsperren war es ungesetzlich, um diese Zeit noch draußen unterwegs zu sein. Das bot ihm Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil war, dass auch Kameras sowie die Einheiten von Armee und Stadtwache gegen ihn wären. Daraus ergab sich aber auch der Vorteil, dass seine Verfolger ihnen ebenso aus dem Weg gehen mussten. Doch irgendwie waren sie auch bereits den Kameras des Bahnhofs entschlüpft – kein gutes Zeichen. Ein Teil von Antons Bewusstsein grübelte über die Frage, wie ihnen dies wohl gelungen sei. Der Großteil jedoch war vollauf mit der Aufgabe zu überleben beschäftigt.
Schräg gegenüber, auf dem weiten offenen Platz, erkannte er das alte Reiterbildnis. Soweit er wusste, überwachte es diesen gesamten Vorhof der Verdammnis. Zeit den Platz großflächig zu umgehen hatte er aber keine mehr; seine 15 Minuten liefen ihm bereits davon. Während er sich bereit machte, überlegte ein Teil von ihm, welchen Weg er zu nehmen hätte. – Und schon war er unterwegs. Geduckt huschte er im Schatten der niedrigen Mauer vor gen Norden und von dort zu den kärglichen Bäumen der kleinen Parkanlagen, immer darauf bedacht, etwas zwischen sich und dem Denkmal zu haben.
Und dann kam der Panzer der Stadtwache um die Ecke.
Gemächlich fuhr er durch die Nacht, der Straße nach Süden folgend. – Während An-ton nach Westen wollte, in die Innenstadt. Die Zeit lief ihm weiter davon, derweil die Kriegsmaschine langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Er konnte unmöglich war-ten, bis sie verschwunden wäre; das wurde ihm schnell klar: Ihre Fahrt würde mehre-re Minuten kosten. Also brauchte er einen anderen Weg – und einen solchen sah er einfach nicht. Es bot sich bloß eine Möglichkeit. Kurz fragte Anton sich, ob sich jemand bei einem Scheitern seinerseits jemals über den Wagemut, den er gleich an den Tag legen würde, wundern oder ihn gar dafür preisen würde. Doch kaum war der Ge-danke gekommen, da verschwand er auch schon wieder – Anton musste all seine Aufmerksamkeit anderem schenken.
Um Zeit zu sparen hatte er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür entschieden, hinter dem Fahrzeug die Straße zu überqueren. An einer Stelle knapp vor der Unterführung standen auf beiden Seiten der Straße Bäume eng an eben dieser – eng genug, dass der Panzer dort kurz keine Sicht nach hinten hätte – zumindest hoffte Anton dies.
Und letztlich schaffte er es die Aufgabe zu meistern, zugleich außerhalb des Blickfeldes sowohl des Denkmals als auch des Fahrzeuges zu bleiben. Kaum hatten er und das Fahrzeug die Bäume erreicht, da ließ Anton sich in die Hocke nieder und bewegte sich in dieser Stellung so schnell es ging auf die andere Straßenseite. Drüben ruhte er sich für wenige Augenblicke aus – nichts war geschehen. Kein Alarm, keine Fahrtunterbrechung des Panzers – er hatte es geschafft. Doch wirkliches Ausruhen durfte es nicht geben – er musste weiter; man würde nicht auf ihn warten.
Auf der anderen Seite der Straße – nun in der Innenstadt – suchte Anton sich den nächstbesten Weg hinunter in die Passage. Dort war es ruhiger und sicherer denn oben in den Straßen – zumindest sprach dies seine Erinnerung. Doch er musste sich überrascht zeigen, wieviel sich seit seinem letzten Besuch in dieser tiefgelegenen Einkaufsstraße getan hatte; alles wirkte abweisender. Die Geschäfte waren natürlich verschlossen und vergittert. Nach links hin führte die Treppe zurück zum Bahnhof; nach Rechts hin ging es zum Kröpcke, seinem Ziel.
Kaum war er unten angekommen, schon ging er rechts zwischen einem Blumenkasten und einem Geschäft in Deckung – sicher war sicher. Laut seiner Uhr hatte er bereits über zwei Minuten verloren; Zeit sich zu beeilen. Von Kasten zu Kasten huschend versuchte er stets im Schatten zu bleiben – jederzeit könnte von oben jemand zu ihm herabsehen. Sein Fehler wurde aber, dass er nicht genug auf die Geschäfte aufpasste. Trotz Ausgangsperren und Stadtwachen schienen einige Kaufleute weiterhin Einbrecher zu fürchten.
Als Anton an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikam, entdeckte ihn dessen Kamera. Lautlos leitete sie den Alarm weiter; gleichzeitig setzte sie die Verteidigungsanlagen in Betrieb: Neben Anton kam raschelnd eine kleine Kanone aus einem der Blumen-kästen gefahren. – Er hatte gerade noch genug Zeit, ein paar Kästen weiterzuhetzen, da eröffnete sie auch schon das Feuer auf ihn. Nachdem die ersten Schüsse verklungen waren, setzte er seinen Weg fort – nun kriechend, bis er den Brückenbogen er-reicht und durchquert und dessen Mauern zwischen sich und der Waffe gebracht hat-te.
Obzwar er nichts von dem Alarm mitbekommen hatte, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schmeckte anders; eine Vorahnung lag in ihr. Und dann sah er das Gitter, das man am nächsten Brückenbogen herabgelassen hatte – das seinen Weg zum Kröpcke versperrte. An den Seiten dieses Bogens waren jedoch auch die nächsten Treppen, über die man die Straße erreichen konnte. Nachdem hier unten nun solche Gefahren lauerten, wäre der obere Weg vielleicht gar nicht so verkehrt. Und doch – oben könnte es sogar noch gefährlicher sein, unter dem Blick der Kameras der gro-ßen Einkaufstempel, die allesamt sicher ihre eigenen Verteidigungsanlagen und Sicherheitsleute hatten. – Nein, lieber wäre er unten in der Passage geblieben, doch welche Wahl bot sich ihm schon? Wie so oft im Leben war die Freiheit der Wahl eine bloß vorgetäuschte.
Vorsichtig machte er weiter seinen Weg hinter den Blumenkästen, jetzt stärker auf verdächtige Vorrichtungen achtend, doch begegnete ihm nichts. – Und dann begann der Krach. Während er noch seine Strecke verfolgend sich gefragt hatte, wie er u-auffällig hinauf kommen sollte, vernahm er plötzlich Stimmen; männliche und auch weibliche Stimmen die miteinander Sprachen, irgendwo oben auf der Straße. Um was es ging vermochte er nicht festzustellen, doch in den Stimmen lagen Anklänge von Gereiztheit und Zorn. Ein Streit schien sich zwischen unbekannten Personen zu ent-wickeln. Anton wusste nicht, ob er froh oder besorgt sein sollte; vielmehr beschäftigte ihn das Verrinnen der Zeit – Er musste dringend auf die andere Seite des Gitters. Im Notfall müsste er rennen, so schnell er könnte – auch wenn dies zu ihrer allen Aufdeckung führen könnte. Diesen Beschluss fassend erreichte er endlich die Treppe und folgte ihr hinauf.
Kurz bevor er oben ankam, sah er vorsichtig auf die Straße – auf seiner Seite schien alles ruhig zu sein – doch auf der anderen Seite standen acht Menschen in ein aufgewühltes Gespräch vertieft. – Anton vermeinte die Kluft der Stadtwache sowie einige Feuerwaffen auszumachen. Nicht unbedingt seine Wunschbestandteile für einen gelungenen Abend. Fast schon kriechend bewegte er sich zwischen eine Bank und die Sicherheitsmauer des Abgrundes zur Passage hin – von dort konnte er sowohl beobachten, als auch sich fortbewegen und blieb doch außerhalb der Sicht des nördlichen Tempels. Die Neugier überwog seinen Zeitdruck und so vertrödelte er absichtlich wichtige Augenblicke, das Schauspiel zu betrachten. Offensichtlich bestand die Menge dort am anderen Ufer aus drei Sicherheitsleuten des dortigen Tempels sowie vier bewaffneten Stadtwächtern. In ihrer Mitte hielten die Templer einen der Männer, die Anton verfolgt hatten, während die Stadtwache versuchte ihn über seine Absichten auszufragen. Es geschah nicht oft, dass die Wächter zuerst fragten bevor sie schossen, doch nützte dies dem Mann auch nicht viel.
Scheinbar wollte er gerade etwas erwidern, da trafen ihn und die ihn Haltenden Schüsse. Sofort suchten die Überlebenden Deckung – und hatten kurz darauf auch genug Zielscheiben, als weitere von Antons Verfolgern aus den Schatten traten und die nächste Brücke überquerten, derweil sie auf die Wächter feuerten. Anton schauderte – hätte er sich schneller bewegt, so hätten diese Männer ihn gesehen. Jetzt blieb ihm aber die Möglichkeit, weiterzukriechen, bis er die hinabführende Treppe hinter der nächsten Brücke erreicht hätte. Auf der anderen Seite schien alles zu sehr mit der Schießerei beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. Kurz vor der Treppe wurde An-ton jedoch fahrlässig: Eine Kamera erfasste ihn und setzte die Waffen des Tempels in Betrieb. Doch er hastete bloß noch weiter und die Treppe hinab in Deckung – derweil die Waffen in dem Kampf auf der anderen Passageseite genug Beschäftigung fanden. Die Verwirrung oben wuchs noch, als von dem stillen Alarm des Bekleidungsgeschäfts alarmiert auch endlich weitere Stadtwächter eintrafen. – Dass all diese Antons Verfolgern jedoch trotzdem weiterhin unterlegen waren, sollte er erst später bemer-ken. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit erstmal dem Weg hinunter an den Fuß des hässlichen Klotzes, der die örtliche Internetüberprüfung beherbergte und sich über seinem Ziel befand.
Der Hof dort unten war karg und wenig genutzt, doch gab es dort immerhin zwei Wachhäuschen der Stadtwächter, die den Weg hinab in den Bahnhof des Kröpckes bewachten. Jetzt war Anton also endlich an den schwersten Teil seiner Reise gelangt. Jedes Haus war von einem bewaffneten Mann besetzt, die beide Befehl hatten selbst bei Krach wie dem an der Oberfläche ihre Posten nicht zu verlassen. – Und natürlich hatten die Schüsse sie trotzdem aufmerksam werden lassen. Im Schatten einer Säule überlegte Anton, wie er an ihnen vorbeikommen konnte, derweil seine Uhr die ihm verbliebenen sechs Minuten ankündigte. Unterdrückt atmend beobachtete er, während der Zeitdruck ihm Schweiß auf die Stirn trieb. Wie könnte er es schaffen an den beiden vorbeizukommen? Und da kam ihm ein Putzroboter unbeabsichtigt zu Hilfe.
Diese kleinen Maschinen waren die einzigen, die unbehelligt die Nacht durchkreuzen durften, ohne dafür erschossen zu werden. Der Kleine steuerte geradewegs auf die Klappe in der Wand weit rechterhand der Wachhäuschen zu. Die Klappe schien groß genug, dass auch Anton dort hindurchpassen würde, also versuchte er sein Glück. Im Schatten der Säulen folgte er der Maschine, die keine Möglichkeiten besaß, ihn zu bemerken, es sei denn als Hindernis, dabei außerhalb der Sicht der Wächter bleibend. Es schien fast zu einfach, doch es klappte. Zwar musste er schrecklich kriechen um der Maschine folgen zu können, doch bald war er drinnen: im Wartungsbereich des Kröpcke.
Endlos schien es durch dunkle enge Tunnel zu gehen, bis er endlich wieder eine Klappe zu einem betretbaren Bereich erblickte. Dort hindurchkriechend erkannte er die große obere Halle des Kröpcke, die nun bei Nacht in Dunkelheit lag, nur schwach erleuchtet von schummrigen blauem Licht. Ob dies eine weitere Abwehrmaßnahme war? Seine Augen konnten kaum etwas fassen, kaum etwas erkennen – alles ver-schwamm vor seinen Augen, die in diesem Licht bloß noch schmerzen konnten. Es schien schrecklich, doch er musste es ertragen. Undeutlich erkannte er immerhin, dass die Rolltreppen hinab zur tiefsten Ebene genau vor ihm lagen, er sein Ziel also schon fast erreicht hatte.
Nun galt es nur noch, in diesem bösartigen Licht den vermutlich vorhandenen Kame-ras aus dem Weg zu gehen und hinab zu gelangen. Doch einfach schien das nicht, konnte er sich in dem Licht doch kaum aufrecht halten. Und doch sah er sowohl fern links den Eingang neben den Propagandaplakaten bewachend sowie auch noch genau über den Rolltreppen je eine sich schwenkende Kamera. Diese galt es also zu umgehen. Doch diesmal half ihm nichts mehr, diesmal gab es keine wundersamen ablenkenden Umstände mehr; auch konnten ihm die Säulen der Halle nicht weiter helfen, denn diese als Deckung nutzend bliebe er trotzdem stets im Sichtbereich einer der Kameras. Er sah aber keine andere Möglichkeiten mehr; er musst einfach einen Lauf versuchen – seine Zeit war immerhin fast abgelaufen. Und selbst wenn die Kameras die Wachen benachrichtigen sollten, könnte er immer noch vor ihnen unten und verschwunden sein.
Also wagte er es: Tollkühn rannte er plötzlich aus der Hocke heraus los und drückte sich in der Mitte der Halle gegen eine Säule, außerhalb der Sicht der Rolltreppenkamera, doch weit im Feld der anderen. – Und nichts geschah. Sollte es möglich sein? – Schnell sah er hinüber zum Eingang und tatsächlich, sie war gerade diesem zugewandt; nur langsam schwenkte sie um zu ihm. Kurz bevor sie ihn doch noch in Sicht hatte, wirbelte er um die Säule herum, der anderen Kamera zu begegnen – und auch diese sah gerade weg, hinab zur Zugebene.
Welch Glück! Dachte er bei sich und hastete die ausgeschaltete Rolltreppe hinab, hinunter in die unterste Ebene, wo sein Zug auf ihn wartete – noch für etwa eine Mi-nute. Auf halbem Wege angelangt sah er sie; all die Züge, die Nacht für Nacht hier schlafen durften, um die von Flüchtlingen überfüllten Straßenbahnhöfe zu entlasten. Und der dort, der ganz hinten – das war seiner.
Doch kaum erreichte er das Ende der Treppe, da geschah es: In seiner Hast hatte er vergessen, dass es hier unten auch Kameras geben mochte. Eine entdeckte ihn – und ihr Alarm war nicht still. Während sein Gleichgewichtssinn noch gegen das schreck-liche blaue Licht kämpfte, wurde nun sein Bewusstsein mit Pfeilen aus reinstem Lärm angegriffen. Taumelnd machte er sich auf den verbliebenen Weg. Ein letztes Mal be-lebte ihn sein Überlebenstrieb, als an den Wänden einzelne Plakate an unsichtbaren Fäden wie Vorhänge gehoben wurden und die Schlünde ihrer Waffen in die Welt hin-aussteckten.
Anton rannte, so schnell wie er noch nie gerannt war, und hinter ihm prallte Kugel um Kugel in die schlafenden Wagen. Fenster barsten, Metall wurde durchlöchert; die Hölle hatte sich ihm hier wahrhaftig eröffnet. – Und dann, mit einem Mal, war alles so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Im letzten Augenblick seiner Zeit erreichte er seinen Zug, während dieser langsam losfuhr. Er suchte sich seinen Weg in ein Abteil der ersten Klasse, wo er sich erschöpft in einem Sessel niederließ. Endlich war es vorbei; endlich konnte er ausruhen. – Oder doch nicht?
Unvermittelt betrat ein Mann sein Abteil, gekleidet wie die ihn verfolgenden Männer und begleitet von ebensolcher zwei. Dann sprach er.
„Anton! – Sie hätten es fast geschafft uns abzuhängen.“
„Leider nur fast.“
Anton verzog das Gesicht. Er wollte doch nur noch schlafen.
„Aber hier sind wir – genau wie sie.“
„Ja – und ich habe gewonnen! Ich habe es in der Zeit hierher geschafft.“
Anton grinste, trotz Müdigkeit und Schmerzen.
Der Mann legte den Koffer, den ihm einer seiner Begleiter gab, neben Anton auf den Beistelltisch.
„Ihre Bezahlung – wie abgesprochen. Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden könnte. Auch wenn die letzte fast ihr Verhängnis geworden wär – wir müssen vieles ausbessern. – Tatsächlich!“
„Ja – ihre Anlagen sind halt doch nicht so gut; ich sagte es ihnen. Schade nur um ihre Leute, die getötet wurden.“
Doch der Mann winkte nur ab.
„Ach, die wussten um ihr Risiko – sie lebten und starben für den Staat, wie wir alle.“ Vielsagend blickte er zu seinen Begleitern, deren Gesichter ausdruckslos blieben. Dann sah er Anton in die Augen. „Sie dagegen sind unabhängig. Auch wenn ich nicht weiß, warum man sie frei und am Leben lässt – scheinbar sind sie nützlich genug.“ Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da schien ihm etwas einzufallen. „Sie wissen ja, der Zug bringt sie auf’s Land. – Darf man fragen, was sie nun vorhaben?“
Müde lehnte sich Anton zurück als halbe Antwort, bevor er sich für eine Entgegnung entschied.
„Schlafen – und dann das Geld ausgeben!“
Und Anton lachte.


Anna Schulz

August 23, 2009

Wieder einmal sich für einen Auftrag vorbereitend, eilte Anna durch ihr Haus, auf der Suche nach ihren Sachen. Sie sollte dies einmal weit reisen, fern ihrer Heimat und noch ferner ihres neuen Wohnortes. Die Zeitung schickte sie weit ins östliche Asien, der Zeitpunkt ihres Abfluges war nah und sie schon viel zu spät dran. Der Taxifahrer stand bereits ungeduldig vor der Tür und sie hatte ihre Kamera immer noch nicht gefunden.
Minuten später war die Kamera zwar da aber natürlich fehlte ein passender Film. Sie beschloss, einen auf dem Weg zum Flughafen zu besorgen. Es war bereits 21:20 Uhr und der Flug war für 21:45 Uhr angesetzt, als sie ins Taxi stieg. Aber ihr wurde erst unterwegs klar, dass die Geschäfte schon längst geschlossen hatten. Also verschob sie den Kauf auf ihren Ankunftsort.
Um 21:40 waren sie da, Anna hatte nur noch wenig Zeit. Sie schleuderte dem Fahrer das Geld entgegen, nicht groß nachzählend, und hastete los. Glücklicherweise kannte sie sich hier auf dem Flughafen bereits gut aus, sonst hätte sie das Flugzeug nie gefunden. Vermutlich wollten die Fluggesellschaften durch das versteckte Hinstellen ihrer Maschinen verhindern, dass es in ihnen zu voll wird, dachte Anna und grübelte im Laufen bereits über einem diesem Thema gewidmetem Artikel nach.
Um 21:44 schließlich war sie fast da, als man sie aufhielt. Die Kontrollen über sich ergehen lassend kam sie erst eine Stunde später wieder raus. Flug verpasst! Befürchtete sie schon aber scheinbar hatte ihre Maschine nur sehnsüchtig auf sie gewartet, der Flug war um eine Stunde aufgrund technischer Störungen verlegt worden.
Sie kam also doch noch hinein, fand einen Sitzplatz in der 2. Klasse – mehr zu zahlen waren ihre Auftraggeber nicht bereit – und die Maschine hob letztendlich sogar ab. Der weitere Flug verlief recht ereignislos, wenn es auch bei der Zwischenlandung in Frankfurt a.M. fast zu einer Katastrophe kam, als der Pilot völlig betrunken vor den Konsolen einschlief und der Co-Pilot sich mit einer Stewardess im hinteren Teil des Flugzeuges vergnügte.
Gerade noch gerettet wurden die Passagiere durch einen besonnenen Mitreisenden welcher schon mal geflogen war und alle vor dem Tode rettete als er das Steuer übernahm und das Flugzeug landete.
Die beiden Flugführer verloren ihren Job noch am selben Tage und wurden sogar ins Gefängnis gesteckt, der Pilot-in-der-Not bekam eine Belohnung und wurde Held des Tages, die deutsche Presse berichtete den ganzen Tag von nichts anderem mehr…. Nur Anna merkte nichts davon, sie verschlief sämtliche Ereignisse. Zwei neue Flugführer kamen und so konnte die Reise fortgesetzt werden.
Nach ewiger Reisezeit, wie es den meisten vorkam, um 8:33 Uhr, mit fast zwei Stunden Verspätung, setzte das Flugzeug in Singapur auf und Anna stieg aus. Ihre Sorge galt nun einen Film zu ergattern und dann ihr Hotel zu erreichen. Am Nachmittag bereits sollte sie sich doch mit einem Journalistenteam aus der Stadt treffen und dann Fotos von der Stadt machen, für ihren Bericht.
Später, in einem Laden für technische Geräte, wo sie einen passenden Film fand und kaufte, sah sie die örtlichen Nachrichten im Fernsehen laufen. Vor kurzem erst war ein Flugzeug abgestürzt auf dem Weg von Singapur nach New York, laut dem Nachrichtensprecher war die Katastrophe wohl ausgelöst wurden durch einen technischen Defekt im Autopiloten. Die Piloten konnten nichts mehr tun, als auch noch die Triebwerke aussetzten.
„Sieht ja fast aus wie das mit dem ich hergekommen bin“, dachte Anna beim Anblick des Wracks, welches im Indischen Ozean nun trieb.
Sie zuckte mit den Schultern, lächelte dem netten Verkäufer zu und verließ das Geschäft. Draußen kramte sie einen Kaugummi aus der Tasche, hatte sie doch erst kürzlich das Rauchen aufgegeben, und steckte ihn sich in den Mund. Dummerweise achtete sie nicht darauf, welche örtlichen Gesetze es gab, denn schon Kaugummibesitz war verboten im sauberen Singapur, noch dummerweise stand an der anderen Straßenseite eine Polizeistreife.
Und so landete sie denn in deren Gewahrsam. Den Termin mit ihren Kollegen verpasste sie, dafür aber konnte sie einen Bericht anfangen über die Sauberkeit eines Gefängnisses in Singapur und deren Regeln und Vorschriften, denn mit denen konnte sie sich eine Zeitlang intensiv beschäftigen. Zwar stand auf Kaugummibesitz nur eine Geldstrafe, jedoch hatte man ihr dies unterwegs heimlich abgenommen…