Keuchend drückte sich Anton in die feuchte dunkle Ecke zwischen zwei Pfeilern des Gebäudes. Sofort hielt er den Atem an. – Nicht auffallen! Und tatsächlich: Wenige Sekunden darauf kam ein Mann in der Straße an. Anton vernahm seine Schritte, sein Zögern, seinen schweren Atem – und schon lief der Mann weiter – genau an ihm vor-bei, doch bemerkte er nichts von ihm.
Endlich konnte Anton aufatmen, als die Schritte wieder verklungen waren. Er musste weg, bevor sie ihn doch noch fänden. Wieviel Zeit wohl noch war? Ein Blick auf sei-ne Uhr offenbarte ihm: gut 15 Minuten. Genug Zeit um vom Bahnhof zum Kröpcke zu gelangen – eigentlich. Denn er wusste nicht, wieviele Männer noch hier draußen im nächtlichen Hannover nach ihm suchen würden, doch es waren sicherlich genug, ihm das Leben zu erschweren.
Vorsichtig blickte er aus seinem Versteck hervor. Niemand war zu sehen – niemand. Seit dem Verhängen von Ausgangsperren war es ungesetzlich, um diese Zeit noch draußen unterwegs zu sein. Das bot ihm Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil war, dass auch Kameras sowie die Einheiten von Armee und Stadtwache gegen ihn wären. Daraus ergab sich aber auch der Vorteil, dass seine Verfolger ihnen ebenso aus dem Weg gehen mussten. Doch irgendwie waren sie auch bereits den Kameras des Bahnhofs entschlüpft – kein gutes Zeichen. Ein Teil von Antons Bewusstsein grübelte über die Frage, wie ihnen dies wohl gelungen sei. Der Großteil jedoch war vollauf mit der Aufgabe zu überleben beschäftigt.
Schräg gegenüber, auf dem weiten offenen Platz, erkannte er das alte Reiterbildnis. Soweit er wusste, überwachte es diesen gesamten Vorhof der Verdammnis. Zeit den Platz großflächig zu umgehen hatte er aber keine mehr; seine 15 Minuten liefen ihm bereits davon. Während er sich bereit machte, überlegte ein Teil von ihm, welchen Weg er zu nehmen hätte. – Und schon war er unterwegs. Geduckt huschte er im Schatten der niedrigen Mauer vor gen Norden und von dort zu den kärglichen Bäumen der kleinen Parkanlagen, immer darauf bedacht, etwas zwischen sich und dem Denkmal zu haben.
Und dann kam der Panzer der Stadtwache um die Ecke.
Gemächlich fuhr er durch die Nacht, der Straße nach Süden folgend. – Während An-ton nach Westen wollte, in die Innenstadt. Die Zeit lief ihm weiter davon, derweil die Kriegsmaschine langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Er konnte unmöglich war-ten, bis sie verschwunden wäre; das wurde ihm schnell klar: Ihre Fahrt würde mehre-re Minuten kosten. Also brauchte er einen anderen Weg – und einen solchen sah er einfach nicht. Es bot sich bloß eine Möglichkeit. Kurz fragte Anton sich, ob sich jemand bei einem Scheitern seinerseits jemals über den Wagemut, den er gleich an den Tag legen würde, wundern oder ihn gar dafür preisen würde. Doch kaum war der Ge-danke gekommen, da verschwand er auch schon wieder – Anton musste all seine Aufmerksamkeit anderem schenken.
Um Zeit zu sparen hatte er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür entschieden, hinter dem Fahrzeug die Straße zu überqueren. An einer Stelle knapp vor der Unterführung standen auf beiden Seiten der Straße Bäume eng an eben dieser – eng genug, dass der Panzer dort kurz keine Sicht nach hinten hätte – zumindest hoffte Anton dies.
Und letztlich schaffte er es die Aufgabe zu meistern, zugleich außerhalb des Blickfeldes sowohl des Denkmals als auch des Fahrzeuges zu bleiben. Kaum hatten er und das Fahrzeug die Bäume erreicht, da ließ Anton sich in die Hocke nieder und bewegte sich in dieser Stellung so schnell es ging auf die andere Straßenseite. Drüben ruhte er sich für wenige Augenblicke aus – nichts war geschehen. Kein Alarm, keine Fahrtunterbrechung des Panzers – er hatte es geschafft. Doch wirkliches Ausruhen durfte es nicht geben – er musste weiter; man würde nicht auf ihn warten.
Auf der anderen Seite der Straße – nun in der Innenstadt – suchte Anton sich den nächstbesten Weg hinunter in die Passage. Dort war es ruhiger und sicherer denn oben in den Straßen – zumindest sprach dies seine Erinnerung. Doch er musste sich überrascht zeigen, wieviel sich seit seinem letzten Besuch in dieser tiefgelegenen Einkaufsstraße getan hatte; alles wirkte abweisender. Die Geschäfte waren natürlich verschlossen und vergittert. Nach links hin führte die Treppe zurück zum Bahnhof; nach Rechts hin ging es zum Kröpcke, seinem Ziel.
Kaum war er unten angekommen, schon ging er rechts zwischen einem Blumenkasten und einem Geschäft in Deckung – sicher war sicher. Laut seiner Uhr hatte er bereits über zwei Minuten verloren; Zeit sich zu beeilen. Von Kasten zu Kasten huschend versuchte er stets im Schatten zu bleiben – jederzeit könnte von oben jemand zu ihm herabsehen. Sein Fehler wurde aber, dass er nicht genug auf die Geschäfte aufpasste. Trotz Ausgangsperren und Stadtwachen schienen einige Kaufleute weiterhin Einbrecher zu fürchten.
Als Anton an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikam, entdeckte ihn dessen Kamera. Lautlos leitete sie den Alarm weiter; gleichzeitig setzte sie die Verteidigungsanlagen in Betrieb: Neben Anton kam raschelnd eine kleine Kanone aus einem der Blumen-kästen gefahren. – Er hatte gerade noch genug Zeit, ein paar Kästen weiterzuhetzen, da eröffnete sie auch schon das Feuer auf ihn. Nachdem die ersten Schüsse verklungen waren, setzte er seinen Weg fort – nun kriechend, bis er den Brückenbogen er-reicht und durchquert und dessen Mauern zwischen sich und der Waffe gebracht hat-te.
Obzwar er nichts von dem Alarm mitbekommen hatte, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schmeckte anders; eine Vorahnung lag in ihr. Und dann sah er das Gitter, das man am nächsten Brückenbogen herabgelassen hatte – das seinen Weg zum Kröpcke versperrte. An den Seiten dieses Bogens waren jedoch auch die nächsten Treppen, über die man die Straße erreichen konnte. Nachdem hier unten nun solche Gefahren lauerten, wäre der obere Weg vielleicht gar nicht so verkehrt. Und doch – oben könnte es sogar noch gefährlicher sein, unter dem Blick der Kameras der gro-ßen Einkaufstempel, die allesamt sicher ihre eigenen Verteidigungsanlagen und Sicherheitsleute hatten. – Nein, lieber wäre er unten in der Passage geblieben, doch welche Wahl bot sich ihm schon? Wie so oft im Leben war die Freiheit der Wahl eine bloß vorgetäuschte.
Vorsichtig machte er weiter seinen Weg hinter den Blumenkästen, jetzt stärker auf verdächtige Vorrichtungen achtend, doch begegnete ihm nichts. – Und dann begann der Krach. Während er noch seine Strecke verfolgend sich gefragt hatte, wie er u-auffällig hinauf kommen sollte, vernahm er plötzlich Stimmen; männliche und auch weibliche Stimmen die miteinander Sprachen, irgendwo oben auf der Straße. Um was es ging vermochte er nicht festzustellen, doch in den Stimmen lagen Anklänge von Gereiztheit und Zorn. Ein Streit schien sich zwischen unbekannten Personen zu ent-wickeln. Anton wusste nicht, ob er froh oder besorgt sein sollte; vielmehr beschäftigte ihn das Verrinnen der Zeit – Er musste dringend auf die andere Seite des Gitters. Im Notfall müsste er rennen, so schnell er könnte – auch wenn dies zu ihrer allen Aufdeckung führen könnte. Diesen Beschluss fassend erreichte er endlich die Treppe und folgte ihr hinauf.
Kurz bevor er oben ankam, sah er vorsichtig auf die Straße – auf seiner Seite schien alles ruhig zu sein – doch auf der anderen Seite standen acht Menschen in ein aufgewühltes Gespräch vertieft. – Anton vermeinte die Kluft der Stadtwache sowie einige Feuerwaffen auszumachen. Nicht unbedingt seine Wunschbestandteile für einen gelungenen Abend. Fast schon kriechend bewegte er sich zwischen eine Bank und die Sicherheitsmauer des Abgrundes zur Passage hin – von dort konnte er sowohl beobachten, als auch sich fortbewegen und blieb doch außerhalb der Sicht des nördlichen Tempels. Die Neugier überwog seinen Zeitdruck und so vertrödelte er absichtlich wichtige Augenblicke, das Schauspiel zu betrachten. Offensichtlich bestand die Menge dort am anderen Ufer aus drei Sicherheitsleuten des dortigen Tempels sowie vier bewaffneten Stadtwächtern. In ihrer Mitte hielten die Templer einen der Männer, die Anton verfolgt hatten, während die Stadtwache versuchte ihn über seine Absichten auszufragen. Es geschah nicht oft, dass die Wächter zuerst fragten bevor sie schossen, doch nützte dies dem Mann auch nicht viel.
Scheinbar wollte er gerade etwas erwidern, da trafen ihn und die ihn Haltenden Schüsse. Sofort suchten die Überlebenden Deckung – und hatten kurz darauf auch genug Zielscheiben, als weitere von Antons Verfolgern aus den Schatten traten und die nächste Brücke überquerten, derweil sie auf die Wächter feuerten. Anton schauderte – hätte er sich schneller bewegt, so hätten diese Männer ihn gesehen. Jetzt blieb ihm aber die Möglichkeit, weiterzukriechen, bis er die hinabführende Treppe hinter der nächsten Brücke erreicht hätte. Auf der anderen Seite schien alles zu sehr mit der Schießerei beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. Kurz vor der Treppe wurde An-ton jedoch fahrlässig: Eine Kamera erfasste ihn und setzte die Waffen des Tempels in Betrieb. Doch er hastete bloß noch weiter und die Treppe hinab in Deckung – derweil die Waffen in dem Kampf auf der anderen Passageseite genug Beschäftigung fanden. Die Verwirrung oben wuchs noch, als von dem stillen Alarm des Bekleidungsgeschäfts alarmiert auch endlich weitere Stadtwächter eintrafen. – Dass all diese Antons Verfolgern jedoch trotzdem weiterhin unterlegen waren, sollte er erst später bemer-ken. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit erstmal dem Weg hinunter an den Fuß des hässlichen Klotzes, der die örtliche Internetüberprüfung beherbergte und sich über seinem Ziel befand.
Der Hof dort unten war karg und wenig genutzt, doch gab es dort immerhin zwei Wachhäuschen der Stadtwächter, die den Weg hinab in den Bahnhof des Kröpckes bewachten. Jetzt war Anton also endlich an den schwersten Teil seiner Reise gelangt. Jedes Haus war von einem bewaffneten Mann besetzt, die beide Befehl hatten selbst bei Krach wie dem an der Oberfläche ihre Posten nicht zu verlassen. – Und natürlich hatten die Schüsse sie trotzdem aufmerksam werden lassen. Im Schatten einer Säule überlegte Anton, wie er an ihnen vorbeikommen konnte, derweil seine Uhr die ihm verbliebenen sechs Minuten ankündigte. Unterdrückt atmend beobachtete er, während der Zeitdruck ihm Schweiß auf die Stirn trieb. Wie könnte er es schaffen an den beiden vorbeizukommen? Und da kam ihm ein Putzroboter unbeabsichtigt zu Hilfe.
Diese kleinen Maschinen waren die einzigen, die unbehelligt die Nacht durchkreuzen durften, ohne dafür erschossen zu werden. Der Kleine steuerte geradewegs auf die Klappe in der Wand weit rechterhand der Wachhäuschen zu. Die Klappe schien groß genug, dass auch Anton dort hindurchpassen würde, also versuchte er sein Glück. Im Schatten der Säulen folgte er der Maschine, die keine Möglichkeiten besaß, ihn zu bemerken, es sei denn als Hindernis, dabei außerhalb der Sicht der Wächter bleibend. Es schien fast zu einfach, doch es klappte. Zwar musste er schrecklich kriechen um der Maschine folgen zu können, doch bald war er drinnen: im Wartungsbereich des Kröpcke.
Endlos schien es durch dunkle enge Tunnel zu gehen, bis er endlich wieder eine Klappe zu einem betretbaren Bereich erblickte. Dort hindurchkriechend erkannte er die große obere Halle des Kröpcke, die nun bei Nacht in Dunkelheit lag, nur schwach erleuchtet von schummrigen blauem Licht. Ob dies eine weitere Abwehrmaßnahme war? Seine Augen konnten kaum etwas fassen, kaum etwas erkennen – alles ver-schwamm vor seinen Augen, die in diesem Licht bloß noch schmerzen konnten. Es schien schrecklich, doch er musste es ertragen. Undeutlich erkannte er immerhin, dass die Rolltreppen hinab zur tiefsten Ebene genau vor ihm lagen, er sein Ziel also schon fast erreicht hatte.
Nun galt es nur noch, in diesem bösartigen Licht den vermutlich vorhandenen Kame-ras aus dem Weg zu gehen und hinab zu gelangen. Doch einfach schien das nicht, konnte er sich in dem Licht doch kaum aufrecht halten. Und doch sah er sowohl fern links den Eingang neben den Propagandaplakaten bewachend sowie auch noch genau über den Rolltreppen je eine sich schwenkende Kamera. Diese galt es also zu umgehen. Doch diesmal half ihm nichts mehr, diesmal gab es keine wundersamen ablenkenden Umstände mehr; auch konnten ihm die Säulen der Halle nicht weiter helfen, denn diese als Deckung nutzend bliebe er trotzdem stets im Sichtbereich einer der Kameras. Er sah aber keine andere Möglichkeiten mehr; er musst einfach einen Lauf versuchen – seine Zeit war immerhin fast abgelaufen. Und selbst wenn die Kameras die Wachen benachrichtigen sollten, könnte er immer noch vor ihnen unten und verschwunden sein.
Also wagte er es: Tollkühn rannte er plötzlich aus der Hocke heraus los und drückte sich in der Mitte der Halle gegen eine Säule, außerhalb der Sicht der Rolltreppenkamera, doch weit im Feld der anderen. – Und nichts geschah. Sollte es möglich sein? – Schnell sah er hinüber zum Eingang und tatsächlich, sie war gerade diesem zugewandt; nur langsam schwenkte sie um zu ihm. Kurz bevor sie ihn doch noch in Sicht hatte, wirbelte er um die Säule herum, der anderen Kamera zu begegnen – und auch diese sah gerade weg, hinab zur Zugebene.
Welch Glück! Dachte er bei sich und hastete die ausgeschaltete Rolltreppe hinab, hinunter in die unterste Ebene, wo sein Zug auf ihn wartete – noch für etwa eine Mi-nute. Auf halbem Wege angelangt sah er sie; all die Züge, die Nacht für Nacht hier schlafen durften, um die von Flüchtlingen überfüllten Straßenbahnhöfe zu entlasten. Und der dort, der ganz hinten – das war seiner.
Doch kaum erreichte er das Ende der Treppe, da geschah es: In seiner Hast hatte er vergessen, dass es hier unten auch Kameras geben mochte. Eine entdeckte ihn – und ihr Alarm war nicht still. Während sein Gleichgewichtssinn noch gegen das schreck-liche blaue Licht kämpfte, wurde nun sein Bewusstsein mit Pfeilen aus reinstem Lärm angegriffen. Taumelnd machte er sich auf den verbliebenen Weg. Ein letztes Mal be-lebte ihn sein Überlebenstrieb, als an den Wänden einzelne Plakate an unsichtbaren Fäden wie Vorhänge gehoben wurden und die Schlünde ihrer Waffen in die Welt hin-aussteckten.
Anton rannte, so schnell wie er noch nie gerannt war, und hinter ihm prallte Kugel um Kugel in die schlafenden Wagen. Fenster barsten, Metall wurde durchlöchert; die Hölle hatte sich ihm hier wahrhaftig eröffnet. – Und dann, mit einem Mal, war alles so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Im letzten Augenblick seiner Zeit erreichte er seinen Zug, während dieser langsam losfuhr. Er suchte sich seinen Weg in ein Abteil der ersten Klasse, wo er sich erschöpft in einem Sessel niederließ. Endlich war es vorbei; endlich konnte er ausruhen. – Oder doch nicht?
Unvermittelt betrat ein Mann sein Abteil, gekleidet wie die ihn verfolgenden Männer und begleitet von ebensolcher zwei. Dann sprach er.
„Anton! – Sie hätten es fast geschafft uns abzuhängen.“
„Leider nur fast.“
Anton verzog das Gesicht. Er wollte doch nur noch schlafen.
„Aber hier sind wir – genau wie sie.“
„Ja – und ich habe gewonnen! Ich habe es in der Zeit hierher geschafft.“
Anton grinste, trotz Müdigkeit und Schmerzen.
Der Mann legte den Koffer, den ihm einer seiner Begleiter gab, neben Anton auf den Beistelltisch.
„Ihre Bezahlung – wie abgesprochen. Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden könnte. Auch wenn die letzte fast ihr Verhängnis geworden wär – wir müssen vieles ausbessern. – Tatsächlich!“
„Ja – ihre Anlagen sind halt doch nicht so gut; ich sagte es ihnen. Schade nur um ihre Leute, die getötet wurden.“
Doch der Mann winkte nur ab.
„Ach, die wussten um ihr Risiko – sie lebten und starben für den Staat, wie wir alle.“ Vielsagend blickte er zu seinen Begleitern, deren Gesichter ausdruckslos blieben. Dann sah er Anton in die Augen. „Sie dagegen sind unabhängig. Auch wenn ich nicht weiß, warum man sie frei und am Leben lässt – scheinbar sind sie nützlich genug.“ Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da schien ihm etwas einzufallen. „Sie wissen ja, der Zug bringt sie auf’s Land. – Darf man fragen, was sie nun vorhaben?“
Müde lehnte sich Anton zurück als halbe Antwort, bevor er sich für eine Entgegnung entschied.
„Schlafen – und dann das Geld ausgeben!“
Und Anton lachte.
GaU06 In einer Sommernacht (in Hannover)
Oktober 6, 2013GaU05 Am Bahnhof Köln
Oktober 5, 2013Eine Lautsprecherdurchsage weckte Robert. „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof.“ Erschrocken richtete er sich auf. Waren sie wirklich schon da? – Tatsächlich: Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die aufragenden Blöcke der Großstadt des rechtsrheinischen Ufers, plötzlich unterbrochen durch den Lauf des Flusses.
„Ach, das wurde auch Zeit.“ Der Mann ihm gegenüber räkelte sich und lächelte ihm zu. „Ich kann es kaum erwarten meine Freundin zu sehen.“
Robert nickte seinem Gegenüber in dem auffälligen gelben Regenmantel bloß zu, dann machte er sich fertig. Der Zug wurde bereits langsamer.
Am Bahnhof angekommen glitten die Türen des Zuges vor Robert lautlos zur Seite. Als er mit seinem Koffer den Wagen verließ, stolperte er fast über einen kleinen braunen Hund, der einmal quer über den Bahnsteig lief, verfolgt von einem kleinen Bahnangestellten mit Hut und Schnurrbart. Verwundert ließ Robert von diesem Schauspiel bald ab und trottete in Richtung der Wartehalle. Köln war nicht sein Endziel; ein bloßer Aufenthalt, bevor es weiterginge nach Paris, wo er sich Erholung und Ablenkung erhoffte. Doch bis der nächste Zug käme, würde es noch dauern. Gezwungenermaßen machte er es sich also auf einer Bank der Halle so gemütlich wie möglich. Schweigend betrachtete er die Nachrichten- und Werbebildschirme, doch seine Gedanken drifteten ab. Diana – warum hatte sie ihn verlassen? Hatte er ihr nicht immer alles gegeben, alles für sie getan? Und nun war sie fort und er musste allein von dannen ziehen.
Schnell wurde er in seinem Selbstmitleid unterbrochen, als sich ein älterer Mann neben ihn setzte. Ohne sich vorzustellen oder dazu aufgefordert zu werden, fing dieser an zu reden. „Ach, diese Werbung – dieser neumoderne Schnickschnack! Erinnert mich an die alte Zeit, da wir alle gehorchen sollten. Jetzt ist es wieder so. Helga, meine Frau – sie kauft gerade dahinten in diesen ‚Colonaden‘ ein – wir gehen gleich essen – konnte damals nur knapp entkommen. Heute entkommt dem keiner mehr. Wie froh wir doch sind, dass wir uns haben! – Und sie, haben sie auch jemanden? – Oh, habe ich etwas falsches gesagt?“
Doch schon hatte sich Robert erhoben und ging in Gedanken versunken in Richtung des Bahnsteigs. Er wollte lieber dort warten. Wieder musste er dem Hund samt Angestelltem ausweichen, doch störte sich nicht mehr daran. Während er die Rolltreppe nahm, kam ihm auf der anderen Seite der Mann im gelben Mantel entgegen. Dieser nickt ihm zu, was Robert nicht bemerkte – seine Gedanken waren bei Diana.
„Ach, da bist du ja endlich!“ Der Alte Mann erhob sich, als seine Frau sich näherte. „Hast einen guten Fang gemacht – Seh‘ ich!“ Nun, da Helga zurück war, konnten sie endlich essen gehen. Sein Magen hätte ihn sonst noch aufgefressen. Während sie auf das Restaurant zuhielten, erzählte sie ihm ihre Erlebnisse in den Einkaufsläden. Er dagegen frönte dem, was ihn dreißig Jahre Ehe hatte ertragen lassen: Er ließ seine Gedanken schweifen. Am anderen Ende der Halle sah er einen Mann im gelben Regenmantel stolpern, als ein kleiner brauner Hund an ihm vorbei lief. Kaum hatte er sich wieder gefangen, prallte ein Bahnangestellter mit Mütze und Schnurrbart gegen ihn. Beide fielen hin.
Den Anblick zu köstlich findend, kicherte der alte Mann wie ein kleines Kind und bemerkte nicht, wie Helga ihn daraufhin böse ansah. „Nur weil ich nicht in dieses Kleid gepasst habe bin ich nicht zu dick!“
Verwundert sah er sie an. „Was?“
„Verzeihung!“ Ohne auf eine Antwort von dem Mann in Gelb zu warten lief Norbert weiter, nachdem er sich erhoben hatte. Schnell aber musste er einsehen, dass der Hund ihm entkommen war. Sich und die Welt verfluchend stapfte er zurück zu seinem Häuschen am Bahnsteig. Christa wartete bereits.
„Na? – Hast ihn wohl nicht bekommen?“
Erschöpft ließ sich Norbert auf seinen Stuhl fallen. Das war nicht sein Tag. „Ist irgendetwas passiert?“ Bei seinem Glück hatte er sicherlich etwas aufregendes oder wichtiges verpasst. Doch Christa verneinte nur.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber weißt du – wir können diesen Hund hier nicht so frei rumlaufen lassen! Ruf den Hundefänger! – Und wenn du es nicht tust, mache ich es halt. Danach muss ich dann aber weg, das weißt du. Ich kann nicht ewig hier warten und aufpassen, während du versagst. Karl wartet bestimmt schon!“
Du bist ein Miststück, war das einzige, das Norbert als Erwiderung einfiel. Er setzte dort draußen seine Gesundheit aufs Spiel um wilde Tiere zu jagen, während sie bloß hier saß und auf den Bildschirm starrte. Doch laut auszusprechen wagte er es nicht. „Dann geh; ich mache das schon.“
Freude stahl sich in Christas Züge und wie ein kleines Kind sprang sie auf. „Danke!“
Als er allein war, verfluchte Norbert sie, seine Arbeit sowie sein Leben. Und Zuhause wartete seine Frau.
Christa eilte in Richtung der Wartehalle. Bevor sie dort hingelangen konnte, sah sie den kleinen braunen Hund in Richtung der Züge eilen. – Der Hund! Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit; Karl wartete schon. Doch – in der Wartehalle angekommen wurde sie diesbezüglich enttäuscht. Nirgends ein Karl, bloß zig andere Reisende und Besucher. Traurig setzte sie sich auf eine der Bänke. Seit sie vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass Karl in die Stadt käme, freute sie sich darauf. Und da es diesseits des Flusses nur noch wenig Grund zur Freude gab, wäre ein Treffen umso schöner gewesen. Hatte er sie jetzt vergessen? – Kurz fingen Kriegsbilder auf den Bildschirmen ihre Aufmerksamkeit… und plötzlich wurde es schwarz.
„Rate wer da ist!“
Als sie diese Stimme hörte, wurde sie wirklich zu einem kleinen Kind. Heftig sprang sie auf. Die Hände vor ihren Augen konnten sich gerade noch retten, da fiel sie schon Karl um den Hals. „Karl! Wie habe ich dich vermisst!“ Nach dem ersten Augenblick der Begrüßung trat sie zurück, ihn zu betrachten. „Aber was für ein scheußlicher gelber Regenmantel – als würde Mutter dich immer noch einkleiden.“
Doch Karl lachte nur. „Immer noch das kleine freche Gör! – Aber setz‘ dich – ich habe nicht viel Zeit.“
Jetzt setzte Christa wieder ihr trauriges Gesicht auf. „Du musst schon wieder gehen?“
„Ja, bald – aber keine Angst, ich bleibe in der Stadt für eine ganze Weile. Ich erwarte hier noch jemanden – ich habe mich verliebt!“
„Oh! – Wie schön! – Erzählst du mir von ihr?“
Natürlich kam Karl dem nach. Alles was er konnte, erzählte er ihr in der kurzen Zeit, die er hatte. Er lernte sie daheim in Bochum kennen, durch einen Zufall. Sie war gerade dabei gewesen die Stadt zu verlassen, da sie sich eine Weile zuvor von ihrem Freund getrennt hatte, der sie stets misshandelt hatte, und es deshalb in Bochum nicht mehr aushielt. Ihr Ziel war Köln und er beschloss ihr weiter zu folgen, als sie dann endgültig weggezogen war. Nun war er also auch hier, sie zu treffen und eine Weile bei ihr zu bleiben – und seine Schwester könnte er bei dieser Gelegenheit auch mehrmals besuchen.
Kaum hatte er geendet, da fiel ihm der kleine Hund auf, der erneut durch die Halle rannte. „Ist so etwas nicht verboten?“
Christa folgte seinem Blick und verzog das Gesicht. „Ja, sicher, aber dieser Idiot Norbert schafft es einfach nicht, ihn einzufangen. Ich werde zurückgehen und die Sache selbst übernehmen! – Und du meldest dich, wenn du Zeit hast!“ Damit verabschiedeten sie sich und Christa verschwand wieder in Richtung der Gleise.
Kurze Zeit später wurde Karls Warten endlich beendet. Strahlend erhob er sich und ging ihr entgegen. „Diana! – Wie sehr ich dich doch vermisst habe!“
Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie beschlossen, sich zusammen an einen Getränkestand zu setzten, um sich ihre Neuigkeiten zu erzählen, bevor sie in die Stadt aufbrächen. Karl erzählte ihr, dass er den Staat um Erlaubnis gebeten hätte auch nach Köln ziehen zu dürfen und dass er zuversichtlich sei diese auch zu bekommen. Sie lächelte ihn daraufhin an und meinte eine Überraschung für ihn zu haben, doch sei diese bei ihrer Ankunft im Bahnhof verschwunden. Vielleicht aber würde sie ja noch einmal auftauchen.
Und tatsächlich: Wenig später, als sie bereits ihre Getränke genossen, kam plötzlich der kleine Hund angerannt und sprang Diana mitten auf den Schoß.
„Ach – da bist du ja! Wo warst du denn?“
Während der Hund sie fröhlich anwedelte, kam hinter ihm Norbert japsend an. „Ist das ihrer?“ – Und nachdem er befriedigt war und ihr noch eine Belehrung gehalten hatte, zog er wieder von dannen.
Diana zeigte Karl ihre Überraschung: ihr neues Haustier.
„Du solltest ihn besser anleinen!“
Lachend gab ihm Diana einen Kuss.
Am anderen Ende der Halle beobachtete Robert das Geschehen am Getränkestand. Nun wusste er, warum sie ihn verlassen hatte. Sollte er es wagen sie anzusprechen? – Dieser Bastard! – Doch sein Zug käme gleich. Gebrochenen Herzens trottete er davon, während sich Tränen in seine Augen stahlen.