GaU07 Ein Deutscher in Amerika

Oktober 13, 2013

Dies ist mein letzter Tag auf Erden. Bald werden sie mich holen. Mein Leben habe ich verwirkt – und nur, weil ich Freunde in Amerika besuchen wollte und nicht genug über dieses Land wusste. Ich weiß nicht, wer dies einst lesen sollte, doch will ich die Wahrheit erzählen, die man mir hier gestohlen hat. Ich hoffe, diese Schilderung wird heim gebracht, damit der Staat von den Vorgängen hier erfährt.

Es ist schon sonderbar – obwohl Amerika und Europa bereits eine Weile als Ameropa vereint sind, wurde die Trennung eigentlich nur noch schlimmer. Doch glücklicherweise scheint das System nicht überall durch, hat nicht alle Lebenslagen durchdrungen: Ich besaß Freunde in Amerika, wie soviele bei uns; Freunde, die mir jetzt nicht mehr helfen können. Vor wenigen Monaten schrieb mir mein alter Freund James, den ich einst zu Studienzeiten daheim in Deutschland kennengelernt hatte, als die Grenzen noch nicht so verwickelt waren, ob ich ihn und seine Familie nicht einmal besuchen kommen möchte. Der Zeitpunkt war gut gewählt, wusste er doch, dass mein Studium nun vorbei war und ich Zeit zu überbrücken hatte, bis der Staat mir Heim und Arbeit zuweisen würde.

Ich war viel zu unwissend, dies war mein Verderben. Die Reisepapiere zu bekommen war bereits eine große Anstrengung. Vermutlich wäre es besser gewesen, hätte man mir die Ausreise nicht erlaubt. Doch letztlich bewilligten sowohl der Staat als auch Amerika diese. Freunde zu besuchen sei ja kein Vergehen, hieß es da noch scherzend von einem Beamten. Ich war sehr gespannt, wie Amerika jenseits der Nachrichtensperren aussah. Und dann ging alles sehr schnell. Seitdem die Fernreisemittel in staatlicher Hand sind, verläuft zumindest das Reisen zügig. Vor zwei Wochen kam ich hier in Los Angeles an. – In der Stadt Los Angeles, auf deren Gebiet ich mich befinde – und doch wieder nicht.

James ließ mich freundlicherweise vom Flughafen abholen und zu sich bringen. Der Flug zu ihm verwehrte mir jegliche Ansicht der Stadt, die mich hätte warnen können. Seine Familie besitzt eine eigenständige Villa, hoch oben auf dem Grün einer der Stadttürme. Der Flug dort hinauf und die Aussicht von oben behagten mir gar nicht, schon immer hatte ich Höhenangst. Kaum, dass James mich begrüßte, erklärte er mir auch schon die Umstände. Dass seine Familie reich war wusste ich ja bereits, doch nicht, wie sie lebten: so hoch oben auf einem Turm. Seit Los Angeles jedoch ebenso wie andere Gebiete des Landes teilweise an zahlreiche kleinere private Staaten verkauft worden war, musste man zur Landnutzung im restlichen Gebiet immer weiter in die Höhe bauen. Ich hätte damals besser auf die weiteren Schilderungen der amerikanischen Verhältnisse achten sollen – doch wenige Tage später bekam ich sie am eigenen Leibe zu spüren. Diesen Tag meiner Ankunft will ich jedoch als letzten schönen Tag meines Lebens behalten. Nach einer herzlichen Begrüßung stellte er mich seiner Familie vor: Emma, seiner Frau, sowie seinen Geschwistern Dorothy und Virgil, die beide noch mit im Haus der Familie wohnten. Oh Dorothy, verzeih mir diese Qual, in die ich dich stürzte!

Den ersten Tag ließ James mir noch zur Umgewöhnung, am zweiten zeigte er mir den Stadtturm, am dritten gab es eine große Feier seiner Familie und Freunde. Der Anlass schien ausgerechnet die Entscheidung Amerikas zum Beitritt in den asiatischen Krieg zu sein. – Und auch wenn James mehrmals beteuerte, dass er nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stelle, fühlte ich mich dennoch betrogen. An diesem Abend war allerlei hohes Getier anwesend und trank und redete feuchtfröhlich miteinand. Während ich anfangs es noch bevorzugte abseits zu stehen, führte mich später Dorothy hinaus auf den Dachgarten des Turmes, zwischen all den anderen Villen hindurch bis zu einer der Begrenzungen, von denen man Stadt und Land betrachten konnte. Im Dunkel wirkte es freundlicher als einen Tag darauf. Dorothy und ich unterhielten uns gut an diesem Abend; wir verstanden uns! – Dorothy, wie gerne hätte ich dich mit in meine Heimat genommen.

Am nächsten Morgen dann lud James uns ein, eine Fahrt durch die Stadt zu unternehmen. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich hätte abgelehnt. Zu Viert machten wir uns auf den Weg: James am Steuer, Virgil daneben, ich mit Dorothy auf der Rückbank. Emma bevorzugte es daheim zu bleiben. – Welch weise Entscheidung. Zunächst einmal hatten wir von der Villa herab durch den Turm in die Straßen zu kommen, bestand James doch darauf ein altmodisches Auto zu nehmen. Glücklicherweise ersparte da der Lastenaufzug uns eine lange Fahrt. Und kaum waren wir in den Straßen, erwartete mich eine böse Überraschung. Viel hatte ich über den Wandel Amerikas der letzten Jahre gehört, fast alles tat ich als Gerücht ab, ließ das Land doch kaum Neuigkeiten selber ins Ausland strömen – und auf nichts dort draußen war ich wahrhaftig vorbereitet.

So kam es dann, dass ich staunend allerlei Fragen stellte, während wir durch die engen Häuserschluchten fuhren. Tatsächlich gehören die meisten Teile der Stadt verschiedenen Privatstaaten. Wie James mir – erneut – erklärte, besteht Amerika nur noch aus einer Handvoll größerer Staaten. Das ganze restliche Land, welches kaum einen Bruchteil des Ganzen ausmacht, müssen sich die Privatstaaten teilen. Natürlich gibt es hierbei mehr Nachfrage denn Angebot, so dass sich die Preise schnell erhöhten. Um dennoch zum Zuge zu kommen entschlossen einige Nachfrager sich zusammenzutun. Dies ist die Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass wir einige Stadt- und Landteile durchfuhren, in denen sich zu einer festgesetzten Uhrzeit plötzlich die Flaggen änderten: Der Besitzer der Stunde war nun dran. Das wieder führt zu teils seltsamen Begebenheiten, denn oftmals wechseln auch ganze Gesetzessysteme mit den Besitzern. Wo in einem Moment das freie Paradies liegt, kann im nächsten schon ein Arbeiterstaat hocken. Dass dabei Länder, die ihren Bewohnern zu ungastlich waren einer regen Einwohnerflucht unterworfen sind, dürfte klar sein. Und so erwarteten uns immer wieder inmitten der gewaltigen Türme, die einem der großen Länder angehören, langweilige, leere betonierte Plätze, düstere Schutthügel sowie auch selten Gärten zum Anbau anderswo verbotener Pflanzen. Auch die Grenzübergänge wechseln von Mal zu Mal, lediglich die Stadttürme sind durchgängig von klotzigen Festungen abgesichert. An diesen bemerkt man auch immer wieder die steigende Kriegsbereitschaft Amerikas. Die Privatstaaten dagegen führen ihre eigenen Grenzübergänge. Von locker ungesicherten bis hin zu streng bewachten Grenzen findet sich im Schatten der gewaltigen Stadttürme alles. Und dann kamen wir in die VLT.

James beteuerte später immer wieder, nicht gewusst zu haben wo er uns da hinführte, dass es ein unglücklicher Zufall sei, dass wir gerade zu dieser Stunde dort ankamen. Und tatsächlich hielten uns unterwegs einige Staus und Sperren auf, so dass wir vielleicht wirklich nur etwas zu spät ankamen. Tatsache ist aber, dass wir mitten in die Grenzuntersuchungen der VLT gerieten und dies einer der größten Fehler ist, die man begehen kann. Wir waren schon zuvor oft in Kontrollen gekommen, doch keine war so schlimm wie diese. Vor uns stand eine lange Reihe von Wagen, die alle das Gebiet der VLT durchqueren wollten. – Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur eines davon hierzubleiben gedachte.

Nur langsam ging es vorwärts. Stets musste ein Wagen halten; wurde sorgsam überprüft. Wir anderen hatten derweil zu warten, was mir anfangs noch egal war, während mich die Unruhe meiner Mitfahrer bloß wunderte. Dann aber kam ein Wagen an die Reihe, dessen Stellung in der Schlange vor uns die Dritte war. Ich weiß nicht, was geschehen war; weiß nicht, welcher Verbrechen dieser Wagen schuldig war – doch mit Entsetzten erblickte ich, wie der Fahrer aus seiner Maschine gezogen und ihm mit einem kurzen schnellen Ruck einer kräftigen Maschine Kopf samt Rückgrat herausgerissen wurde.

Ab da wollte ich nur noch fliehen. So auch die anderen, doch James sprach, dass das unser Tod sein würde, also hielten wir aus. Wir sollten einfach wie brave Bürger wirken – leichter gesagt denn getan. Ängstlich betrachtete ich die Soldaten, die zu beiden Seiten der Straße Stellung bezogen hatten, und beugte mich James‘ Urteil. Dorothy hielt meine Hand, um mich zu beruhigen. Und dann war es soweit – wir waren an der Reihe. Zwei Soldaten überprüften unseren Wagen derweil links von uns an der Hinrichtungsmaschine die Überreste einiger unglücklicher Fahrer baumelten. Als wir weiterfahren durften, durchfuhr mich gewaltige Erleichterung, doch ertrug ich den Anblick der Toten nicht und schloss die Augen. – Plötzlich wurde unser Wagen angehalten – und alles weitere, an das ich mich noch erinnere, war Schwärze. Ich wurde aus dem Wagen gezogen und niedergeschlagen.

Am nächsten Tag erwachte ich in dieser ungastlichen Zelle, in welcher ich nun immer noch bin. Auf meine Fragen was geschehen sei, was ich denn verbrochen hätte, wurde mir keine Antwort erteilt. Man sagte mir bloß, die Anhörung sei in neun Tagen. In diesen verbliebenen neun Tagen wurden immerhin James und Dorothy je einmal zu mir durchgelassen. James versprach mir jegliche Hilfe, doch sei der Fall wohl aussichtslos; die VLT war nicht dafür bekannt ihre Opfer zu begnadigen. Immerhin aber konnte er mich über mein Verbrechen aufklären: In der VLT sei es Gesetz, den Plakaten einer bestimmten Popikone, Herrscherin dieses Landes, bei jedem Vorbeifahren höchste Achtung zu zollen. Ich aber hatte meine Augen geschlossen gehalten. Dorothy dagegen gab mir vor allem Stärke. Wenngleich wir nicht körperlich beieinander sein konnten, gab sie mir doch in einer Stunde Gespräch alles, was mich zum Leben anspornen kann. Ach Dorothy, könnten wir doch nur von hier fliehen.

Heute sind die neun Tage vergangen; der Tag der Anhörung ist gekommen; gleich werden sie mich holen. James erzählte mir, dass die VLT nur eine Strafe kenne: die Todesstrafe. Diese würden sie auch oft und ohne Zögern sofort nach Verurteilung einsetzen. Das werden also meine letzten Worte sein. Auf dass Dorothy sie wie versprochen wird hinausschmuggeln und veröffentlichen können.

Ich höre Schritte – ich habe Angst.

Dieser Text wurde vor einer Woche diesem Wortlaut folgend in einer Untergrundzeitung abgedruckt. Wir haben ihn hier aufgegriffen, um Gerüchte zu beseitigen. Am Tag als diese Worte geschrieben wurden, kam es tatsächlich zu einer Anhörung der VLT, bei welcher der Verfasser jedoch freigesprochen wurde. In seiner Freude vergaß er die beschriebenen Blätter in seiner Zelle. Während er mit seiner Geliebten abreiste und heimkehrte, fand jemand uns noch unbekanntes diese Blätter und ließ sie veröffentlichen. Wem immer es jetzt also erscheinen mag, dass Amerika ein grausamer Staat ist: Der Autor ist gesund und lebt glücklich mit seiner Gebliebten unter uns hier in Deutschland. Unser geliebter Staat griff über die Grenzen hinweg ein und befreite sie aus der VLT.

Dagegen sind keine der Lügen des Untergrundes war.

 

 

 

ENDE

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GaU06 In einer Sommernacht (in Hannover)

Oktober 6, 2013

Keuchend drückte sich Anton in die feuchte dunkle Ecke zwischen zwei Pfeilern des Gebäudes. Sofort hielt er den Atem an. – Nicht auffallen! Und tatsächlich: Wenige Sekunden darauf kam ein Mann in der Straße an. Anton vernahm seine Schritte, sein Zögern, seinen schweren Atem – und schon lief der Mann weiter – genau an ihm vor-bei, doch bemerkte er nichts von ihm.
Endlich konnte Anton aufatmen, als die Schritte wieder verklungen waren. Er musste weg, bevor sie ihn doch noch fänden. Wieviel Zeit wohl noch war? Ein Blick auf sei-ne Uhr offenbarte ihm: gut 15 Minuten. Genug Zeit um vom Bahnhof zum Kröpcke zu gelangen – eigentlich. Denn er wusste nicht, wieviele Männer noch hier draußen im nächtlichen Hannover nach ihm suchen würden, doch es waren sicherlich genug, ihm das Leben zu erschweren.
Vorsichtig blickte er aus seinem Versteck hervor. Niemand war zu sehen – niemand. Seit dem Verhängen von Ausgangsperren war es ungesetzlich, um diese Zeit noch draußen unterwegs zu sein. Das bot ihm Vor- und Nachteile. Der größte Nachteil war, dass auch Kameras sowie die Einheiten von Armee und Stadtwache gegen ihn wären. Daraus ergab sich aber auch der Vorteil, dass seine Verfolger ihnen ebenso aus dem Weg gehen mussten. Doch irgendwie waren sie auch bereits den Kameras des Bahnhofs entschlüpft – kein gutes Zeichen. Ein Teil von Antons Bewusstsein grübelte über die Frage, wie ihnen dies wohl gelungen sei. Der Großteil jedoch war vollauf mit der Aufgabe zu überleben beschäftigt.
Schräg gegenüber, auf dem weiten offenen Platz, erkannte er das alte Reiterbildnis. Soweit er wusste, überwachte es diesen gesamten Vorhof der Verdammnis. Zeit den Platz großflächig zu umgehen hatte er aber keine mehr; seine 15 Minuten liefen ihm bereits davon. Während er sich bereit machte, überlegte ein Teil von ihm, welchen Weg er zu nehmen hätte. – Und schon war er unterwegs. Geduckt huschte er im Schatten der niedrigen Mauer vor gen Norden und von dort zu den kärglichen Bäumen der kleinen Parkanlagen, immer darauf bedacht, etwas zwischen sich und dem Denkmal zu haben.
Und dann kam der Panzer der Stadtwache um die Ecke.
Gemächlich fuhr er durch die Nacht, der Straße nach Süden folgend. – Während An-ton nach Westen wollte, in die Innenstadt. Die Zeit lief ihm weiter davon, derweil die Kriegsmaschine langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Er konnte unmöglich war-ten, bis sie verschwunden wäre; das wurde ihm schnell klar: Ihre Fahrt würde mehre-re Minuten kosten. Also brauchte er einen anderen Weg – und einen solchen sah er einfach nicht. Es bot sich bloß eine Möglichkeit. Kurz fragte Anton sich, ob sich jemand bei einem Scheitern seinerseits jemals über den Wagemut, den er gleich an den Tag legen würde, wundern oder ihn gar dafür preisen würde. Doch kaum war der Ge-danke gekommen, da verschwand er auch schon wieder – Anton musste all seine Aufmerksamkeit anderem schenken.
Um Zeit zu sparen hatte er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür entschieden, hinter dem Fahrzeug die Straße zu überqueren. An einer Stelle knapp vor der Unterführung standen auf beiden Seiten der Straße Bäume eng an eben dieser – eng genug, dass der Panzer dort kurz keine Sicht nach hinten hätte – zumindest hoffte Anton dies.
Und letztlich schaffte er es die Aufgabe zu meistern, zugleich außerhalb des Blickfeldes sowohl des Denkmals als auch des Fahrzeuges zu bleiben. Kaum hatten er und das Fahrzeug die Bäume erreicht, da ließ Anton sich in die Hocke nieder und bewegte sich in dieser Stellung so schnell es ging auf die andere Straßenseite. Drüben ruhte er sich für wenige Augenblicke aus – nichts war geschehen. Kein Alarm, keine Fahrtunterbrechung des Panzers – er hatte es geschafft. Doch wirkliches Ausruhen durfte es nicht geben – er musste weiter; man würde nicht auf ihn warten.
Auf der anderen Seite der Straße – nun in der Innenstadt – suchte Anton sich den nächstbesten Weg hinunter in die Passage. Dort war es ruhiger und sicherer denn oben in den Straßen – zumindest sprach dies seine Erinnerung. Doch er musste sich überrascht zeigen, wieviel sich seit seinem letzten Besuch in dieser tiefgelegenen Einkaufsstraße getan hatte; alles wirkte abweisender. Die Geschäfte waren natürlich verschlossen und vergittert. Nach links hin führte die Treppe zurück zum Bahnhof; nach Rechts hin ging es zum Kröpcke, seinem Ziel.
Kaum war er unten angekommen, schon ging er rechts zwischen einem Blumenkasten und einem Geschäft in Deckung – sicher war sicher. Laut seiner Uhr hatte er bereits über zwei Minuten verloren; Zeit sich zu beeilen. Von Kasten zu Kasten huschend versuchte er stets im Schatten zu bleiben – jederzeit könnte von oben jemand zu ihm herabsehen. Sein Fehler wurde aber, dass er nicht genug auf die Geschäfte aufpasste. Trotz Ausgangsperren und Stadtwachen schienen einige Kaufleute weiterhin Einbrecher zu fürchten.
Als Anton an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikam, entdeckte ihn dessen Kamera. Lautlos leitete sie den Alarm weiter; gleichzeitig setzte sie die Verteidigungsanlagen in Betrieb: Neben Anton kam raschelnd eine kleine Kanone aus einem der Blumen-kästen gefahren. – Er hatte gerade noch genug Zeit, ein paar Kästen weiterzuhetzen, da eröffnete sie auch schon das Feuer auf ihn. Nachdem die ersten Schüsse verklungen waren, setzte er seinen Weg fort – nun kriechend, bis er den Brückenbogen er-reicht und durchquert und dessen Mauern zwischen sich und der Waffe gebracht hat-te.
Obzwar er nichts von dem Alarm mitbekommen hatte, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schmeckte anders; eine Vorahnung lag in ihr. Und dann sah er das Gitter, das man am nächsten Brückenbogen herabgelassen hatte – das seinen Weg zum Kröpcke versperrte. An den Seiten dieses Bogens waren jedoch auch die nächsten Treppen, über die man die Straße erreichen konnte. Nachdem hier unten nun solche Gefahren lauerten, wäre der obere Weg vielleicht gar nicht so verkehrt. Und doch – oben könnte es sogar noch gefährlicher sein, unter dem Blick der Kameras der gro-ßen Einkaufstempel, die allesamt sicher ihre eigenen Verteidigungsanlagen und Sicherheitsleute hatten. – Nein, lieber wäre er unten in der Passage geblieben, doch welche Wahl bot sich ihm schon? Wie so oft im Leben war die Freiheit der Wahl eine bloß vorgetäuschte.
Vorsichtig machte er weiter seinen Weg hinter den Blumenkästen, jetzt stärker auf verdächtige Vorrichtungen achtend, doch begegnete ihm nichts. – Und dann begann der Krach. Während er noch seine Strecke verfolgend sich gefragt hatte, wie er u-auffällig hinauf kommen sollte, vernahm er plötzlich Stimmen; männliche und auch weibliche Stimmen die miteinander Sprachen, irgendwo oben auf der Straße. Um was es ging vermochte er nicht festzustellen, doch in den Stimmen lagen Anklänge von Gereiztheit und Zorn. Ein Streit schien sich zwischen unbekannten Personen zu ent-wickeln. Anton wusste nicht, ob er froh oder besorgt sein sollte; vielmehr beschäftigte ihn das Verrinnen der Zeit – Er musste dringend auf die andere Seite des Gitters. Im Notfall müsste er rennen, so schnell er könnte – auch wenn dies zu ihrer allen Aufdeckung führen könnte. Diesen Beschluss fassend erreichte er endlich die Treppe und folgte ihr hinauf.
Kurz bevor er oben ankam, sah er vorsichtig auf die Straße – auf seiner Seite schien alles ruhig zu sein – doch auf der anderen Seite standen acht Menschen in ein aufgewühltes Gespräch vertieft. – Anton vermeinte die Kluft der Stadtwache sowie einige Feuerwaffen auszumachen. Nicht unbedingt seine Wunschbestandteile für einen gelungenen Abend. Fast schon kriechend bewegte er sich zwischen eine Bank und die Sicherheitsmauer des Abgrundes zur Passage hin – von dort konnte er sowohl beobachten, als auch sich fortbewegen und blieb doch außerhalb der Sicht des nördlichen Tempels. Die Neugier überwog seinen Zeitdruck und so vertrödelte er absichtlich wichtige Augenblicke, das Schauspiel zu betrachten. Offensichtlich bestand die Menge dort am anderen Ufer aus drei Sicherheitsleuten des dortigen Tempels sowie vier bewaffneten Stadtwächtern. In ihrer Mitte hielten die Templer einen der Männer, die Anton verfolgt hatten, während die Stadtwache versuchte ihn über seine Absichten auszufragen. Es geschah nicht oft, dass die Wächter zuerst fragten bevor sie schossen, doch nützte dies dem Mann auch nicht viel.
Scheinbar wollte er gerade etwas erwidern, da trafen ihn und die ihn Haltenden Schüsse. Sofort suchten die Überlebenden Deckung – und hatten kurz darauf auch genug Zielscheiben, als weitere von Antons Verfolgern aus den Schatten traten und die nächste Brücke überquerten, derweil sie auf die Wächter feuerten. Anton schauderte – hätte er sich schneller bewegt, so hätten diese Männer ihn gesehen. Jetzt blieb ihm aber die Möglichkeit, weiterzukriechen, bis er die hinabführende Treppe hinter der nächsten Brücke erreicht hätte. Auf der anderen Seite schien alles zu sehr mit der Schießerei beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. Kurz vor der Treppe wurde An-ton jedoch fahrlässig: Eine Kamera erfasste ihn und setzte die Waffen des Tempels in Betrieb. Doch er hastete bloß noch weiter und die Treppe hinab in Deckung – derweil die Waffen in dem Kampf auf der anderen Passageseite genug Beschäftigung fanden. Die Verwirrung oben wuchs noch, als von dem stillen Alarm des Bekleidungsgeschäfts alarmiert auch endlich weitere Stadtwächter eintrafen. – Dass all diese Antons Verfolgern jedoch trotzdem weiterhin unterlegen waren, sollte er erst später bemer-ken. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit erstmal dem Weg hinunter an den Fuß des hässlichen Klotzes, der die örtliche Internetüberprüfung beherbergte und sich über seinem Ziel befand.
Der Hof dort unten war karg und wenig genutzt, doch gab es dort immerhin zwei Wachhäuschen der Stadtwächter, die den Weg hinab in den Bahnhof des Kröpckes bewachten. Jetzt war Anton also endlich an den schwersten Teil seiner Reise gelangt. Jedes Haus war von einem bewaffneten Mann besetzt, die beide Befehl hatten selbst bei Krach wie dem an der Oberfläche ihre Posten nicht zu verlassen. – Und natürlich hatten die Schüsse sie trotzdem aufmerksam werden lassen. Im Schatten einer Säule überlegte Anton, wie er an ihnen vorbeikommen konnte, derweil seine Uhr die ihm verbliebenen sechs Minuten ankündigte. Unterdrückt atmend beobachtete er, während der Zeitdruck ihm Schweiß auf die Stirn trieb. Wie könnte er es schaffen an den beiden vorbeizukommen? Und da kam ihm ein Putzroboter unbeabsichtigt zu Hilfe.
Diese kleinen Maschinen waren die einzigen, die unbehelligt die Nacht durchkreuzen durften, ohne dafür erschossen zu werden. Der Kleine steuerte geradewegs auf die Klappe in der Wand weit rechterhand der Wachhäuschen zu. Die Klappe schien groß genug, dass auch Anton dort hindurchpassen würde, also versuchte er sein Glück. Im Schatten der Säulen folgte er der Maschine, die keine Möglichkeiten besaß, ihn zu bemerken, es sei denn als Hindernis, dabei außerhalb der Sicht der Wächter bleibend. Es schien fast zu einfach, doch es klappte. Zwar musste er schrecklich kriechen um der Maschine folgen zu können, doch bald war er drinnen: im Wartungsbereich des Kröpcke.
Endlos schien es durch dunkle enge Tunnel zu gehen, bis er endlich wieder eine Klappe zu einem betretbaren Bereich erblickte. Dort hindurchkriechend erkannte er die große obere Halle des Kröpcke, die nun bei Nacht in Dunkelheit lag, nur schwach erleuchtet von schummrigen blauem Licht. Ob dies eine weitere Abwehrmaßnahme war? Seine Augen konnten kaum etwas fassen, kaum etwas erkennen – alles ver-schwamm vor seinen Augen, die in diesem Licht bloß noch schmerzen konnten. Es schien schrecklich, doch er musste es ertragen. Undeutlich erkannte er immerhin, dass die Rolltreppen hinab zur tiefsten Ebene genau vor ihm lagen, er sein Ziel also schon fast erreicht hatte.
Nun galt es nur noch, in diesem bösartigen Licht den vermutlich vorhandenen Kame-ras aus dem Weg zu gehen und hinab zu gelangen. Doch einfach schien das nicht, konnte er sich in dem Licht doch kaum aufrecht halten. Und doch sah er sowohl fern links den Eingang neben den Propagandaplakaten bewachend sowie auch noch genau über den Rolltreppen je eine sich schwenkende Kamera. Diese galt es also zu umgehen. Doch diesmal half ihm nichts mehr, diesmal gab es keine wundersamen ablenkenden Umstände mehr; auch konnten ihm die Säulen der Halle nicht weiter helfen, denn diese als Deckung nutzend bliebe er trotzdem stets im Sichtbereich einer der Kameras. Er sah aber keine andere Möglichkeiten mehr; er musst einfach einen Lauf versuchen – seine Zeit war immerhin fast abgelaufen. Und selbst wenn die Kameras die Wachen benachrichtigen sollten, könnte er immer noch vor ihnen unten und verschwunden sein.
Also wagte er es: Tollkühn rannte er plötzlich aus der Hocke heraus los und drückte sich in der Mitte der Halle gegen eine Säule, außerhalb der Sicht der Rolltreppenkamera, doch weit im Feld der anderen. – Und nichts geschah. Sollte es möglich sein? – Schnell sah er hinüber zum Eingang und tatsächlich, sie war gerade diesem zugewandt; nur langsam schwenkte sie um zu ihm. Kurz bevor sie ihn doch noch in Sicht hatte, wirbelte er um die Säule herum, der anderen Kamera zu begegnen – und auch diese sah gerade weg, hinab zur Zugebene.
Welch Glück! Dachte er bei sich und hastete die ausgeschaltete Rolltreppe hinab, hinunter in die unterste Ebene, wo sein Zug auf ihn wartete – noch für etwa eine Mi-nute. Auf halbem Wege angelangt sah er sie; all die Züge, die Nacht für Nacht hier schlafen durften, um die von Flüchtlingen überfüllten Straßenbahnhöfe zu entlasten. Und der dort, der ganz hinten – das war seiner.
Doch kaum erreichte er das Ende der Treppe, da geschah es: In seiner Hast hatte er vergessen, dass es hier unten auch Kameras geben mochte. Eine entdeckte ihn – und ihr Alarm war nicht still. Während sein Gleichgewichtssinn noch gegen das schreck-liche blaue Licht kämpfte, wurde nun sein Bewusstsein mit Pfeilen aus reinstem Lärm angegriffen. Taumelnd machte er sich auf den verbliebenen Weg. Ein letztes Mal be-lebte ihn sein Überlebenstrieb, als an den Wänden einzelne Plakate an unsichtbaren Fäden wie Vorhänge gehoben wurden und die Schlünde ihrer Waffen in die Welt hin-aussteckten.
Anton rannte, so schnell wie er noch nie gerannt war, und hinter ihm prallte Kugel um Kugel in die schlafenden Wagen. Fenster barsten, Metall wurde durchlöchert; die Hölle hatte sich ihm hier wahrhaftig eröffnet. – Und dann, mit einem Mal, war alles so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Im letzten Augenblick seiner Zeit erreichte er seinen Zug, während dieser langsam losfuhr. Er suchte sich seinen Weg in ein Abteil der ersten Klasse, wo er sich erschöpft in einem Sessel niederließ. Endlich war es vorbei; endlich konnte er ausruhen. – Oder doch nicht?
Unvermittelt betrat ein Mann sein Abteil, gekleidet wie die ihn verfolgenden Männer und begleitet von ebensolcher zwei. Dann sprach er.
„Anton! – Sie hätten es fast geschafft uns abzuhängen.“
„Leider nur fast.“
Anton verzog das Gesicht. Er wollte doch nur noch schlafen.
„Aber hier sind wir – genau wie sie.“
„Ja – und ich habe gewonnen! Ich habe es in der Zeit hierher geschafft.“
Anton grinste, trotz Müdigkeit und Schmerzen.
Der Mann legte den Koffer, den ihm einer seiner Begleiter gab, neben Anton auf den Beistelltisch.
„Ihre Bezahlung – wie abgesprochen. Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden könnte. Auch wenn die letzte fast ihr Verhängnis geworden wär – wir müssen vieles ausbessern. – Tatsächlich!“
„Ja – ihre Anlagen sind halt doch nicht so gut; ich sagte es ihnen. Schade nur um ihre Leute, die getötet wurden.“
Doch der Mann winkte nur ab.
„Ach, die wussten um ihr Risiko – sie lebten und starben für den Staat, wie wir alle.“ Vielsagend blickte er zu seinen Begleitern, deren Gesichter ausdruckslos blieben. Dann sah er Anton in die Augen. „Sie dagegen sind unabhängig. Auch wenn ich nicht weiß, warum man sie frei und am Leben lässt – scheinbar sind sie nützlich genug.“ Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da schien ihm etwas einzufallen. „Sie wissen ja, der Zug bringt sie auf’s Land. – Darf man fragen, was sie nun vorhaben?“
Müde lehnte sich Anton zurück als halbe Antwort, bevor er sich für eine Entgegnung entschied.
„Schlafen – und dann das Geld ausgeben!“
Und Anton lachte.


GaU05 Am Bahnhof Köln

Oktober 5, 2013

Eine Lautsprecherdurchsage weckte Robert. „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof.“ Erschrocken richtete er sich auf. Waren sie wirklich schon da? – Tatsächlich: Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die aufragenden Blöcke der Großstadt des rechtsrheinischen Ufers, plötzlich unterbrochen durch den Lauf des Flusses.
„Ach, das wurde auch Zeit.“ Der Mann ihm gegenüber räkelte sich und lächelte ihm zu. „Ich kann es kaum erwarten meine Freundin zu sehen.“
Robert nickte seinem Gegenüber in dem auffälligen gelben Regenmantel bloß zu, dann machte er sich fertig. Der Zug wurde bereits langsamer.
Am Bahnhof angekommen glitten die Türen des Zuges vor Robert lautlos zur Seite. Als er mit seinem Koffer den Wagen verließ, stolperte er fast über einen kleinen braunen Hund, der einmal quer über den Bahnsteig lief, verfolgt von einem kleinen Bahnangestellten mit Hut und Schnurrbart. Verwundert ließ Robert von diesem Schauspiel bald ab und trottete in Richtung der Wartehalle. Köln war nicht sein Endziel; ein bloßer Aufenthalt, bevor es weiterginge nach Paris, wo er sich Erholung und Ablenkung erhoffte. Doch bis der nächste Zug käme, würde es noch dauern. Gezwungenermaßen machte er es sich also auf einer Bank der Halle so gemütlich wie möglich. Schweigend betrachtete er die Nachrichten- und Werbebildschirme, doch seine Gedanken drifteten ab. Diana – warum hatte sie ihn verlassen? Hatte er ihr nicht immer alles gegeben, alles für sie getan? Und nun war sie fort und er musste allein von dannen ziehen.
Schnell wurde er in seinem Selbstmitleid unterbrochen, als sich ein älterer Mann neben ihn setzte. Ohne sich vorzustellen oder dazu aufgefordert zu werden, fing dieser an zu reden. „Ach, diese Werbung – dieser neumoderne Schnickschnack! Erinnert mich an die alte Zeit, da wir alle gehorchen sollten. Jetzt ist es wieder so. Helga, meine Frau – sie kauft gerade dahinten in diesen ‚Colonaden‘ ein – wir gehen gleich essen – konnte damals nur knapp entkommen. Heute entkommt dem keiner mehr. Wie froh wir doch sind, dass wir uns haben! – Und sie, haben sie auch jemanden? – Oh, habe ich etwas falsches gesagt?“
Doch schon hatte sich Robert erhoben und ging in Gedanken versunken in Richtung des Bahnsteigs. Er wollte lieber dort warten. Wieder musste er dem Hund samt Angestelltem ausweichen, doch störte sich nicht mehr daran. Während er die Rolltreppe nahm, kam ihm auf der anderen Seite der Mann im gelben Mantel entgegen. Dieser nickt ihm zu, was Robert nicht bemerkte – seine Gedanken waren bei Diana.
„Ach, da bist du ja endlich!“ Der Alte Mann erhob sich, als seine Frau sich näherte. „Hast einen guten Fang gemacht – Seh‘ ich!“ Nun, da Helga zurück war, konnten sie endlich essen gehen. Sein Magen hätte ihn sonst noch aufgefressen. Während sie auf das Restaurant zuhielten, erzählte sie ihm ihre Erlebnisse in den Einkaufsläden. Er dagegen frönte dem, was ihn dreißig Jahre Ehe hatte ertragen lassen: Er ließ seine Gedanken schweifen. Am anderen Ende der Halle sah er einen Mann im gelben Regenmantel stolpern, als ein kleiner brauner Hund an ihm vorbei lief. Kaum hatte er sich wieder gefangen, prallte ein Bahnangestellter mit Mütze und Schnurrbart gegen ihn. Beide fielen hin.
Den Anblick zu köstlich findend, kicherte der alte Mann wie ein kleines Kind und bemerkte nicht, wie Helga ihn daraufhin böse ansah. „Nur weil ich nicht in dieses Kleid gepasst habe bin ich nicht zu dick!“
Verwundert sah er sie an. „Was?“
„Verzeihung!“ Ohne auf eine Antwort von dem Mann in Gelb zu warten lief Norbert weiter, nachdem er sich erhoben hatte. Schnell aber musste er einsehen, dass der Hund ihm entkommen war. Sich und die Welt verfluchend stapfte er zurück zu seinem Häuschen am Bahnsteig. Christa wartete bereits.
„Na? – Hast ihn wohl nicht bekommen?“
Erschöpft ließ sich Norbert auf seinen Stuhl fallen. Das war nicht sein Tag. „Ist irgendetwas passiert?“ Bei seinem Glück hatte er sicherlich etwas aufregendes oder wichtiges verpasst. Doch Christa verneinte nur.
„Nicht, dass ich wüsste. Aber weißt du – wir können diesen Hund hier nicht so frei rumlaufen lassen! Ruf den Hundefänger! – Und wenn du es nicht tust, mache ich es halt. Danach muss ich dann aber weg, das weißt du. Ich kann nicht ewig hier warten und aufpassen, während du versagst. Karl wartet bestimmt schon!“
Du bist ein Miststück, war das einzige, das Norbert als Erwiderung einfiel. Er setzte dort draußen seine Gesundheit aufs Spiel um wilde Tiere zu jagen, während sie bloß hier saß und auf den Bildschirm starrte. Doch laut auszusprechen wagte er es nicht. „Dann geh; ich mache das schon.“
Freude stahl sich in Christas Züge und wie ein kleines Kind sprang sie auf. „Danke!“
Als er allein war, verfluchte Norbert sie, seine Arbeit sowie sein Leben. Und Zuhause wartete seine Frau.
Christa eilte in Richtung der Wartehalle. Bevor sie dort hingelangen konnte, sah sie den kleinen braunen Hund in Richtung der Züge eilen. – Der Hund! Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit; Karl wartete schon. Doch – in der Wartehalle angekommen wurde sie diesbezüglich enttäuscht. Nirgends ein Karl, bloß zig andere Reisende und Besucher. Traurig setzte sie sich auf eine der Bänke. Seit sie vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass Karl in die Stadt käme, freute sie sich darauf. Und da es diesseits des Flusses nur noch wenig Grund zur Freude gab, wäre ein Treffen umso schöner gewesen. Hatte er sie jetzt vergessen? – Kurz fingen Kriegsbilder auf den Bildschirmen ihre Aufmerksamkeit… und plötzlich wurde es schwarz.
„Rate wer da ist!“
Als sie diese Stimme hörte, wurde sie wirklich zu einem kleinen Kind. Heftig sprang sie auf. Die Hände vor ihren Augen konnten sich gerade noch retten, da fiel sie schon Karl um den Hals. „Karl! Wie habe ich dich vermisst!“ Nach dem ersten Augenblick der Begrüßung trat sie zurück, ihn zu betrachten. „Aber was für ein scheußlicher gelber Regenmantel – als würde Mutter dich immer noch einkleiden.“
Doch Karl lachte nur. „Immer noch das kleine freche Gör! – Aber setz‘ dich – ich habe nicht viel Zeit.“
Jetzt setzte Christa wieder ihr trauriges Gesicht auf. „Du musst schon wieder gehen?“
„Ja, bald – aber keine Angst, ich bleibe in der Stadt für eine ganze Weile. Ich erwarte hier noch jemanden – ich habe mich verliebt!“
„Oh! – Wie schön! – Erzählst du mir von ihr?“
Natürlich kam Karl dem nach. Alles was er konnte, erzählte er ihr in der kurzen Zeit, die er hatte. Er lernte sie daheim in Bochum kennen, durch einen Zufall. Sie war gerade dabei gewesen die Stadt zu verlassen, da sie sich eine Weile zuvor von ihrem Freund getrennt hatte, der sie stets misshandelt hatte, und es deshalb in Bochum nicht mehr aushielt. Ihr Ziel war Köln und er beschloss ihr weiter zu folgen, als sie dann endgültig weggezogen war. Nun war er also auch hier, sie zu treffen und eine Weile bei ihr zu bleiben – und seine Schwester könnte er bei dieser Gelegenheit auch mehrmals besuchen.
Kaum hatte er geendet, da fiel ihm der kleine Hund auf, der erneut durch die Halle rannte. „Ist so etwas nicht verboten?“
Christa folgte seinem Blick und verzog das Gesicht. „Ja, sicher, aber dieser Idiot Norbert schafft es einfach nicht, ihn einzufangen. Ich werde zurückgehen und die Sache selbst übernehmen! – Und du meldest dich, wenn du Zeit hast!“ Damit verabschiedeten sie sich und Christa verschwand wieder in Richtung der Gleise.
Kurze Zeit später wurde Karls Warten endlich beendet. Strahlend erhob er sich und ging ihr entgegen. „Diana! – Wie sehr ich dich doch vermisst habe!“
Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie beschlossen, sich zusammen an einen Getränkestand zu setzten, um sich ihre Neuigkeiten zu erzählen, bevor sie in die Stadt aufbrächen. Karl erzählte ihr, dass er den Staat um Erlaubnis gebeten hätte auch nach Köln ziehen zu dürfen und dass er zuversichtlich sei diese auch zu bekommen. Sie lächelte ihn daraufhin an und meinte eine Überraschung für ihn zu haben, doch sei diese bei ihrer Ankunft im Bahnhof verschwunden. Vielleicht aber würde sie ja noch einmal auftauchen.
Und tatsächlich: Wenig später, als sie bereits ihre Getränke genossen, kam plötzlich der kleine Hund angerannt und sprang Diana mitten auf den Schoß.
„Ach – da bist du ja! Wo warst du denn?“
Während der Hund sie fröhlich anwedelte, kam hinter ihm Norbert japsend an. „Ist das ihrer?“ – Und nachdem er befriedigt war und ihr noch eine Belehrung gehalten hatte, zog er wieder von dannen.
Diana zeigte Karl ihre Überraschung: ihr neues Haustier.
„Du solltest ihn besser anleinen!“
Lachend gab ihm Diana einen Kuss.
Am anderen Ende der Halle beobachtete Robert das Geschehen am Getränkestand. Nun wusste er, warum sie ihn verlassen hatte. Sollte er es wagen sie anzusprechen? – Dieser Bastard! – Doch sein Zug käme gleich. Gebrochenen Herzens trottete er davon, während sich Tränen in seine Augen stahlen.

 


Die Träumerin – Im Anderen Land

Juni 12, 2009

Etwas warmes weckte sie – etwas feuchtes. Verschlafen öffnete sie die Augen. Braune Knöpfe schwebten wie aufgegangene Sterne über ihr. Eine große Nase schnupperte, dann öffnete sich ein pelziges Maul. Plötzlich leckte ihr eine raue warme Zunge feucht über das Gesicht. Jetzt etwas wacher, schob sie den Bernhardiner ein Stück weit von sich, um seiner Zunge zu entkommen. Schwerfällig folgte er ihrem Wunsch, doch hechelte er freudig weiter. In schläfriger Verwirrung blickte sie sich um. Ringsherum sah sie grünbelaubte Bäume. Ihr Körper ruhte sanft auf dem Gras einer Lichtung, an moosbewachsene Felsen gelehnt. Die Sonne wärmte sie; Vöglein zwitscherten. Wo bin ich? Fragte sie sich in Gedanken. Als sofort eine Antwort ihren Geist erfüllte, blickte sie erschrocken den Bernhardiner an. Hatte er zu ihr gedacht? Nein – das konnte nicht sein. Und doch – kaum hatte sie dies wiederum gedacht, blickte der Hund sie starr an und ein Gefühl der Wärme durchströmte sie.
Dies war das Andere Land, das Land ihrer Träume – Träume? – und nicht ohne Grund war sie hier. Der Bernhardiner hatte einen Freund, einen großen Abenteurer – den Pudel. Dieser war seit einer Weile aber ausgezogen, neue Abenteuer zu suchen. Seinen Sohn ließ er für diese Zeit in der Obhut seines Freundes – des Bernhardiners. Nun war der Kleine aber wenigstens so heißblütig wie sein Vater und seinem Aufpasser eines Tages entschlüpft. Dabei dauerte es nicht lange, bis er sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Dem Bernhardiner wurden diese Neuigkeiten zwar zugetragen, doch kein Bewohner des Anderen Landes könnte den Kleinen dort erreichen, wo er jetzt war. Dafür also hatte der Bernhardiner sie aus ihren Träumen in dieses Land beschworen. Sie, der alles wie die Wirklichkeit erschien, verlor sich in dem Gedanken, dass es nur ein Traum sei. Jetzt war es wesentlich leichter für sie nicht zu wissen, wie sie hergekommen war und gedanklich mit einem großen pelzigen Bernhardiner zu sprechen. Ihre nächsten Gedanken betrafen das ‚Was‘ und ‚Wie‘, doch der Hund gab ihr bloß zu denken, dass sie folgen und dann schon verstehen würde.
Es ging über Stock und Stein und tief in den Wald hinein. Staunend achtete sie mehr auf die Tiere des Waldes denn auf den Weg, welchen sie zurücklegten. Sie sah Schokohörnchen, welche von Baum zu Baum huschten und die überall wachsenden Schokoblumen sammelten; sie sah Gummischweinchen, die grunzend vergnügt gegeneinander stießen; sie sah Puddingfliegen, die bei jedem Flügelschlag einen Teil ihrer Selbst verloren. Und dann plötzlich stießen sie auf die Klippe. Erschrocken blickte sie in den tiefen Abgrund hinab zu einem orangefarbenen Strom, dessen Gift sie laut dem Bernhardiner sofort töten würde. Während ihr noch schwindlig war ob der Höhe vernahm sie die Gedanken, dass sie an der Klippe hinab klettern müsse zu einer Höhle, in welcher man den kleinen Pudel gefangen hielt. Er wies ihr noch den Weg zu einem Seil, das man ihr zur Hilfe bereits um einen Baum geknüpft hatte. Zeit für weitere Fragen oder Einwände blieb nicht – bevor sie sich versah war sie bereits am Klettern und der Bernhardiner verschwunden.
Mit großen Mühen erreichte sie schließlich endlich den Vorsprung, der aus der Klippe hinausragte. Sie kam nicht dazu groß über die gähnende Tiefe unter ihr ängstlich nachzudenken, sprang ihr doch sofort die Tür aus Nussbaumholz ins Auge. Kein Griff oder Knauf zierte ihre Oberfläche, doch waren dafür beide Flügel dieses seltsamenen kleinen Tors mit großen Schnitzereien von Kaninchen verziert. Verwundert und entzückt zugleich strich ihre Hand über die kunstvollen Umrisse der Tiere. Da öffnete sich plötzlich dieses Tor. Ein gähnend schwarzer Gang erwartete sie, der in die Tiefen der Erde führte. Da dieser Weg selbst für den Bernhardiner zu groß gewesen wäre, musste sie auf allen Vieren voran kriechen. Die Dunkelheit bedrückte sie, doch währte dies nicht lange, denn ohne Vorwarnung erleuchteten zahlreiche blaue Punkte den Gang, als hätten sich Glühwürmchen in den Wurzeln der Tunnelwände versteckt. Und endlich dann erreichte sie das Ende dieses Tunnels.
Es war ein Bau, in den sie da geraten war. Eine Art Höhle, etwa dreimal so groß wie sie selber kniend, von der zahlreiche Nebengänge abgingen. Wo sollte sie da bloß anfangen zu suchen? Verzweiflung machte sich breit, als sie ihren Kopf in jeden Tunnel steckte doch nie etwas sah. – Dann – ein Jaulen! Das Jaulen eines verängstigten Hundewelpen! Rasch schickte sie sich an in Richtung dieser Töne zu krabbeln. Das blaue Licht folgte ihr hierbei; als verkündete es den richtigen Pfad. Und letztlich fand sie ihn. Der kleine Pudel war dort unten alleine in der Dunkelheit, mit einem Geflecht aus Wurzeln an die Wand geleint. Herzerweichend jaulte er, verloren im Schattenreich, Doch kaum, da das blaue Licht auch ihn erreichte, hörte er auf und winselte nur noch, während er ihr Näherkommen ängstlich verfolgte. Hoffend, dass das Gespräch durch Gedanken auch bei ihm klappen würde versuchte sie ihn zu beruhigen. Als dies nichts brachte, streichelte sie ihn sanft und spürte seinen zitternden Körper. Dann machte sie sich schnell an seine Befreiung. Kaum war sie fertig, da kamen die Kaninchen.
Wild hoppelnd kamen sie heran, immer wieder kurz haltend um zu schnuppern oder an Wurzeln zu knabbern. Für die Träumerin sahen die Kaninchen gewöhnlich und harmlos aus, doch der Pudel zitterte, als fürchte er um sein Leben. Dies steckte auch sie an. Hastig krabbelte sie durch dunkle Gänge, den Kleinen mit einem Arme an sich drückend, während es hinter ihnen raschelte und kratzte, als ihnen die Kaninchen folgten. Fast war sie daran zu verzweifeln, als sich kein Weg an die Oberfläche zeigte, da bewegte sich plötzlich die Erde vor ihr und ein großer Maulwurf steckte seinen Kopf in den Gang. Seine Gedanken sprachen ihr Ruhe zu und baten sie ihm zu folgen. Während er vorankroch, war sie mit dem Kleinen im Arm dicht auf, weiter verfolgt von den Kaninchen, welche den Kleinen gefangen gehalten hatten. Nicht auf den Schmutz achtend kam ihr die Flucht wie eine Ewigkeit vor, doch schließlich erreichten sie die Oberfläche. Die Lichtung lag im frohen Sonnenschein und der Bernhardiner erwartete sie bereits. Die Flüchtigen retteten sich zu den Steinen, wo die Träumerin erwacht war. Aus der Ferne sahen sie dort wie die Kaninchen ihre Köpfe schnuppernd aus dem Loch steckten. Doch kaum schien die pralle Sonne auf ihre kleinen Häupter, da verkrochen sie sich auch erschrocken sofort wieder.
Nun endlich ließ sie den Kleinen los, der fröhlich kläffend zu seinem Oheim lief, welcher wiederum ihr überschwänglich dankte und sie zur Wiedersehensfeier des alten Pudel einlud. Gerade wollte sie zusagen, da stolperte sie und fiel hin. Ihr wurde schwarz vor Augen…
Lautes Klappern und Schaben weckte sie. Verwirrt sah sie auf und erblickte im Dunkel ihres Zimmers ihre Kaninchen am Fuße des Bettes, wie sie an ihrem kleinen Stoffhund nagten. Schnell sprang sie auf und nahm ihn ihnen weg.
„Was habt ihr denn nun wieder angestellt?“ fragte sie und streichelte den kleinen Hund, der ihr zuzulächeln schien.


Hartmanns MacBeth – Provokation Pur

Oktober 30, 2008

Sebastian Hartmann ist der neue Intendant von Leipzigs Schauspielhaus – was nun Centraltheater heißt. Die Preise wurden drastisch gesenkt und ebenso wurde im Programm aufgeräumt.

Hartmann hat zahlreiche neue Stücke. Eines davon ist die Neuinterpretation von MacBeth. Bereits auf dem Flyer erwartet einen die erste Provokation: „Wir sind böse!“ steht dort in großen Druckbuchstaben. Bei Beginn der Vorstellung die nächste: ab sofort wird fortwährend gebrüllt, geschrien und vor allem wiederholt – und die Hälfte der Besetzung soll noch nackt über die Bühne laufen (oder springen – oder rollen).

Warum ist dem so? Warum muss man als vermeintlicher Schauspieler sich nun bei jeder noch so kleinen Rolle nackt zeigen, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Warum zeigt der Regisseur jede noch so unsinnige Rolle in ihrer Nacktheit? Vermutlich im Sinne der Rahmensetzung, die auf einschlagenden Schock setzt. Oder ist die Dekadenz und der Verfall der Moderne? Zurück zur natürlichen Unschuld des Tieres, im Sinne Nietzsches? Keine originellen Ideen mehr? Pseudo-Kunst? Von den Nacktszenen über Hämmernde Industrialmusik bei Stroboskoplicht hin zu Blut und Gewalt und dem unablässigen Gebrülle. So schien vor allem die Rolle der Lady MacDuff nur aus 5 Minuten Gekreisches zu bestehen, gefolgt von Beleidigung des Publikums. Auch wurde so manches in Lächerliche gezogen, um Lacher zu erzeugen. Schon zu Beginn bei Nutzung der Rauschkräuter durch MacBeth und Banquo. Die Reduzierung der Originalstory sowie -charaktere ist natürlich in den Rahmenbedingungen nicht anders möglich.

Aber es gab auch durchaus gute Momente. Einige der Schauspieler z.B.. Auch der Mops spielte seine Rolle als Hexen, als Brombeer, als Dunkelsprecher wahrlich bravourös – wenn auch etwas ablehnend. Vielleicht war er nervös. Weiterhin waren Kulissen, Effekte, Filmaufnahmen, Kleidung und Requisiten sehr gut. Aber ein bisschen wirkte es dann doch wie Amateurtheater mit guter Technik. Vielleicht ist das ja die Moderne. Subtile Ruhe ist verschwunden, gewichen dem brüllendem Hammer, welcher einem die abstrakten modernen Kunstvorstellungen doch nicht vermitteln konnte – was sollte ausgesagt werden? Die reine Provokation? Brutaler Krieg?

Das Ganze ist vermutlich reine Geschmackssache und sowohl der Hammer als auch das Subtile haben ihre Existenzberechtigung. Zur Hälfte hat es gefallen, zur anderen Hälfte abgestoßen. Die Gründe stehen oben. Verwundert hat es mich dann doch, dass neben den euphorischen Begeisterungsbezeugungen auch einige laute Buh!-Rufe vernehmbar waren; vor allem, als Hartmann die Bühne betrat.

Ich bin gespannt, was im neuen Centraltheater noch so folgen mag.

UPDATE: Auf Schauspiel-Leipzig.de sind Bilder und ein Video zu sehen.


Die Flüchtige: Im anderen Land

Oktober 3, 2008

I

Aufwachen, du verschläfst sonst noch!“ drang eine Stimme an ihr Ohr.

Verschlafen blinzelnd öffnete sie die Augen und sah neben sich das Gesicht von B..

Mmm“, brummte sie, etwas verärgert darüber, geweckt worden zu sein.

Nun steh schon auf!“, sprach B. drängender.

Sie schloss erneut die Augen, um sich nur kurz zu sammeln, da biss B. sie sanft doch zu übermütig in die Seite. Plötzlich war sie mehr als wach.

Au!“ rief sie und stieß ihn unsanft davon.

Schlecht gelaunt stieg sie neben ihn aus dem Bett und machte sich, B. zur Strafe nicht beachtend, fertig. Der Raum war eiskalt, da das Fenster von B. über Nacht offen gelassen wurde. Innerlich grummelte sie vor sich hin, während sie vor Kälte zitterte.

Im Hausflur begegnete sie E..

Denkst du bitte an den Müll?“ warf er ihr zu, während er an ihr vorbei in sein Zimmer eilte.

Mach du das doch!“ rief sie ihm nach, immer noch schlecht gelaunt.

Ach und füttere die Ratten!“ ergänzte man aus E.s Zimmer.

Doch das hörte sie nicht mehr, da sie sich im Badezimmer fertig zu machen versuchte.

Später ging sie mit B. Richtung Hochschule.

Es tut mir leid, das mit vorhin“, sprach B., als sie sich davor verabschiedeten.

Ja, mir auch“, seufzte sie und umarmte ihn kurz.

Auf dem Weg durch den Innenhof huschte ein kleines, zierliches rotbraunes Eichhörnchen schnell vor ihr über den Weg.

Die Veranstaltung langweilte sie, doch musste sie sie besuchen. Ja, sie musste sogar noch mehr, weshalb sie nach der Stunde sich vor in Richtung des Lehrenden drängte, um mit diesem sprechen zu können. Zahlreiche andere hatten denselben Plan, weshalb sie sich bald eingequetscht wie auf dem Marktplatz fühlte.

Ich muss sie sprechen!“ rief sie, wie es etliche andere um sie herum zugleich auch taten.

Doch erst als letztes sollte sie an die Reihe kommen.

Ah, sie“, sprach er und sah sie musternd an.

Wegen der Arbeit…“, begann sie, doch unterbrach er sie.

Sie sollten sie schon vor über zwei Wochen fertig haben!“ herrschte er sie böse an.

Ja, aber…“

Kein Aber. Ich gebe ihnen noch mal zwei Wochen. Wenn sie sie bis dahin immer noch nicht fertig haben, können sie sich von dieser Einrichtung endgültig verabschieden! Vergessen sie die großen Denker nicht!“

Geknickt und trotzdem sauer über dieses Verhalten, trottete sie davon.

Auf dem Heimweg durchquerte sie den Park. Ihre Gedanken kreisten um die Schwierigkeiten, die die Welt ihr bereitete und wie sie sie vielleicht bewältigen könnte. Am liebsten würde sie fliehen.

Plötzlich bemerkte sie das kleine, zierliche rotbraune Eichhörnchen auf dem Weg vor sich sitzen. Das Tier hatte eine Nuss zwischen den Pfoten und sah still zu ihr auf. Erstarrt stand sie da und schaute zurück zu dem Tier. Endlich bewegte es sich, vollkommen ruckartig und unerwartet, und sprintete, die Nuss nun im Mund tragend, zu einem Baum.

Sie sah ihm nach und verspürte das Verlangen, ihm zu folgen. Doch bald vergaß sie diesen Drang und sah gerade noch, wie das Tier durch das Loch eines Buschwerks nah des Baumes verschwand.

Verwundert grübelte sie über diese Begegnung nach, doch drängen sich alsbald wieder ihre vorherigen Gedanken in den Vordergrund. Sie ging weiter und mache nur unterwegs kurz Halt in einer Kneipe, um sich dort bei einem Glas Bier zu besinnen und über den bisherigen Tag nachzudenken.

Da bist du ja endlich!“ fuhr E. sie an, als sie endlich wieder zur Tür ihrer Wohnung hereinkam.

Der Müll!, fuhr es ihr durch den Kopf, ich vergaß…

Doch darum ging es E. nicht einmal. Zumindest zunächst nicht.

Du hast die Ratten nicht gefüttert! Nun ist eine gestorben!“ motzte er sie außer sich und wütend an.

Oh…“, murmelte sie, „tut mir leid.“

Er warf verärgert die Hände gen Himmel.

Immer tut es dir nur leid! Den Müll hast du auch noch nicht weggeschafft!“

Ich werde mich darum kümmern“, entgegnete sie erschöpft.

Ja ja!“ entfuhr es E. nur, eh er wütend davon stapfte.

Kurz ließ sie sich in ihrem Zimmer auf ihr Bett fallen, froh allein zu sein. Nun freute sie sich lediglich noch auf B.

Vielleicht eine Stunde später traf dieser denn auch ein.

Warte in meinem Zimmer, ich bin gleich zurück“, begrüßte sie ihn nur kurz, da ihr der Müll wieder eingefallen war.

Später hielten sie andere Leute und Dinge auf und als sie nach wiederum vielleicht einer weiteren Stunde endlich Zeit für B. hatte, sah dieser sie bei ihrem Eintreten nur böse an.

Hast du etwa wirklich Zeit?“ fragte er lauernd.

Ja, ich habe soviel zu tun…“, entgegnete sie kleinlaut.

So ist es doch immer mit dir!“

Nun war ihre Geduld zu Ende. Genervt drehte sie sich von ihm weg, zog sich an und verließ das Gebäude.

Zwei Bier später ließ sie sich in derselben Kneipe wie Stunden zuvor ein weiteres für den Weg geben und begab sich in den Park. Auf einer Bank sitzend beobachtete sie den Himmel und die Natur, während sie ihr Bier trank. Doch irgendwann war auch dieses leer und sie ließ die Gedanken schweifen, döste bald ein wenig.

II

Schlafmütze! Immer nur schlafen, nie etwas tun! Nun wach schon auf!“

Aufgeschreckt von diesen verärgerten Worten sah sie sich um, wer da gesprochen hatte, doch sah sie nur ein kleines, zierliches rotbraunes Eichhörnchen vor sich am Rande des Weges hocken. Hatte dies sie angemeckert? Nein, konnte nicht sein.

Faulpelz!“ sprach da das Tier und sah sie mit Verachtung in dem kleinen Gesicht finster an.

Was?“ entgegnete sie, vollkommen verwirrt.

Taugenichts!“ fuhr das Tier sie ein letztes Mal an, drehte sich um und huschte davon.

Das konnte doch nicht sein.

Warte!“ rief sie, rappelte sich auf und folgte dem Eichhörnchen, nur leicht schwankend.

Doch erneut verschwand es in dem Loch im Gebüsch. Aber diesmal folgte sie ihm. Sie musste sich bücken und auf Händen und Knien rutschen und kriechen, doch schließlich hatte sie es geschafft, sie war hindurch gelangt. Und sie befand sich auf der anderen Seite.

Es war dunkel und sie musste sich voran tasten. Ihre Hände fühlten etwas weiches. Federn? Es war ihr, als würde sie sich durch lange Federn tasten, die locker irgendwo weit über herunterhingen.

Unvermutet drang ein Licht vor ihr durch die Dunkelheit, umrahmt von diesen federartigen Gebilden. Bald war es hell genug um zu erkennen, dass sie immer noch nicht erkannte, von wo diese herabhingen, auch blendete sie nun das Licht. Doch sie ging darauf zu und schließlich trat sie hinaus ins Freie und sah erst gar nichts, vollkommen geblendet.

Was sie dann sah, verwirrte sie.

Vor ihr lag eine weite Wiese, doch keine gewöhnliche. Weich und nachgiebig lag sie unter ihren Füßen, als sie darüber voranschritt. Bunt bewachsen mit seltsamen Pflanzen und vielen nichtpflanzlichen Dingen war sie, darunter kleinen Würfelchen und vielen anderem. Vorsichtig fasste sie einen davon an. Er war weich und nachgiebig wie Gummi. Dann erst fielen ihr die vielen anderen, teilweise auch tierähnlichen Gummistücke auf. Es gab Frösche, Schnecken, Echsen und kleine Bären.

Von letzteren packte sie einen, nahm ihn hoch und öffnete den Mund, um ihn zu essen.

Hilfe!“ schrie es da plötzlich und biss ihr zahnlos in den Finger.

Mehr aus Schreck denn aus Schmerz ließ sie es fallen, und zurückfedernd fiel es zu Boden.

Wag das ja nicht noch einmal!“ zeterte das kleine Wesen zu ihr hoch und machte sich, sie kraftvoll verfluchend, davon.

Tut mir leid…“, murmelte sie verwirrt, derweil sich alles um sie herum in Bewegung setzte.

Die Schnecken krochen davon, Echsen huschten davon, Frösche hüpften davon. Verwundert sah sie dem Treiben zu, als ihr etwas an den Fuß tippte. Sie sah herab und erkannte eins der Bärchen, etwas größer als die anderen. Es wies sie an, es hochzuheben und so tat sie.

Du bist nicht von hier, oder?“ fragte es sie und sie musste mit dem Kopf schütteln.

Wo bin ich hier?“ fragte sie es.

Na in unserem Land! Und du hättest gerade fast einen der unsrigen gegessen!“

Das tut mir leid… doch wer seid ihr?“

Wir sind natürlich die Bewohner dieses unseren Landes!“

Sie sah ein, dass sie so nicht weiterkommen würde.

Ich bin einem Eichhörnchen gefolgt. Hast du es gesehen?“

Natürlich! Es ist da lang gelaufen!“ sprach das Bärchen und deutete irgendwohin.

Kannst du mir einen Weg zeigen?“ fragte sie hoffnungsvoll.

Sicherlich! Geh mal dorthin!“ sprach es und zeigte woanders hin.

Wie angewiesen ging sie in die besagte Richtung.

Lebt hier eigentlich alles? Darf ich denn nichts anfassen?“ fragte sie, als sie Hunger verspürte und alles leckere vor ihr davon huschte.

Doch! Ich zeig es dir gleich – Siehst du? Dort ist der Fluss!“

Tatsächlich näherten sie sich nun einer Art Fluss. Er war nicht sehr breit, doch sonderbar gelblich.

Folge dem Gelben Fluss bis zu seinem Ziel!“ wies das Bärchen sie an.

Ich danke dir“, sprach sie.

Und nun lass mich herab“, wies es sie an und man tat wie geheißen.

Das Bärchen stapfte zu einem Haufen der seltsamen Würfel, umrahmt von ebenso seltsamen Blumen.

Wenn du Hunger und Durst verspürst, esse dies und trinke aus dem Fluss“, sprach es und verschwand nun endgültig im Getümmel der bunten Gummiwiese.

Als das Bärchen entschwunden war, probierte sie von den Würfeln. Sie waren klebrig und süß, doch gefielen sie ihr. Daraufhin trank sie von dem Fluss und es war Bier.

Nach einer Weile machte sie sich wieder auf den Weg.

Sie folgte stets dem Flusslauf, der sich in leichten Bögen durch die Wiese schlängelte. Bald wich der federnde, bunte Gummiboden einer dunklen, harten Ebene. Statt Gummipflanzen fand sie hier zwar von der Gestalt her gewöhnlich aussehende Pflanzen und sogar vereinzelte Bäume vor, doch waren sie genauso dunkelbraun wie der Boden, nur manchmal aufgehellt von weißen Blüten und Tupfern.

Neugierig fasste sie das Blatt eines Baumes an. Es war hart und kam ihr bekannt vor. Sie brach das Blatt ab und probierte davon ein Stück. Es war Schokolade. Sie nahm sich eine Handvoll der Blätter mit, doch da sonst nichts weiter in dieser Ebene vorhanden war, sich nichts und niemand bewegte, setzte sie ihren Weg bald fort.

Nach einer Weile tauchte vor ihr ein Wald auf. Er sah völlig gewöhnlich aus, bis auf den geringen Umstand, dass er gänzlich in Lila und seltener auch in Schwarz gehalten war. Teilweise hingen erneut die federartigen Pflanzen von den Bäumen, mit denen sie bereits Bekanntschaft geschlossen hatte, sämtlich in verschiedenen Arten von Lila, doch meist heller als die, welche sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte.

Er verströmte eine warme, beruhigende Aura, so betrat sie ihn zuversichtlich. Es gab keine Wege, also folgte sie weiter dem Flusslauf und trank dann und wann einmal einen Schluck von diesem.

Irgendwann begegnete sie der Ratte.

Guten Tag meine Kleine, was führt dich hierher?“

Kleine? Waren Ratten nicht immer kleiner gewesen als sie? Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Hände anders aussahen. Verwundert betrachtete sie sie. Verändert wirkten sie, doch konnte sie nicht genau bestimmen, warum. Und warum wirkten die Bäume so groß?

Kinder wie du sollten hier nicht alleine sein. Wo gehst du hin? Lass mich dich begleiten!“ bot ihr die Ratte nett an.

Doch sie achtete nicht auf die Ratte. Sie musste die Wahrheit über sich selbst herausfinden. Wo konnte sie sich hier selbst betrachten und erklären? Ihr fiel der Fluss ein. Ihr Spiegelbild war verschwommen und undeutlich. Geistesabwesend spielte sie mit ihren Zöpfen. Waren die schon immer da gewesen? – Natürlich.

Hast du vielleicht etwas zu essen bei dir? Ich verhungere“, sprach die Ratte bittend.

Nachdenklich knabberte sie an einem der Schokoladenblätter und achtete nicht auf die Ratte. In der Ferne sah sie Schmetterlinge zum Tanz aufwarten. Begeistert sprang sie auf und lief ihnen nach, jedes Mal freudig lachend, wenn sie ihren Fängen entfleuchten und erneute Kreise in der Luft zu drehen wagten.

Warte, ich komme mit!“ rief ihr die Ratte hinterher und eilte sich.

Stolpernd kam sie auf die Beine und rannte dem Mädchen nach, doch verfing sie sich alsbald im Gestrüpp und stolperte, nun nicht mehr freikommend.

Warte! Bitte hilf mir hier raus! Ich werde sterben!“ quiekte die Ratte vor Angst, doch hörte sie bereits niemand mehr.

Die Schmetterlinge leiteten das Mädchen tiefer in den Wald, fern des Flusses, eh sie unerwartet verschwanden und das Mädchen nun allein im Dunkel zurückließen. Verloren stand sie da und sah sich nach allen Seiten um, doch war sie gänzlich allein.

Hallo?“ rief sie ins Dunkel und fürchtete sich.

Und nichts geschah.

Sie fühlte sich allein und verlassen. Sich auf den Boden setzend, fing sie lautstark an zu weinen.

Warum weinst du denn?“ fragte eine sanfte, tiefe Stimme bald.

Überrascht hörte sie auf zu weinen und sah auf. Da stand vor ihr ein großer Hund und blickte sie sanft an.

Wer bist du?“ fragte sie ängstlich.

Ich bin der Bernhardiner. Und du?“ sprach der Hund und lächelte sie freundlich an.

Doch sie musste den Kopf schütteln.

Ich weiß es nicht mehr – ich dachte, ich wüsste es“, sprach sie und Tränen rollten ihr über die Wange.

Weine nicht – ich weiß, wer dir da helfen kann!“ sprach der Bernhardiner.

Sicher?“ fragte sie, nun ein wenig hoffnungsvoller.

Steig auf meinen Rücken, ich bringe dich zu ihnen!“ lächelte der Hund.

Sie fasste Vertrauen, strich über den Hunderücken, spürte das weiche Fell und zog sich hoch. Auf seinem Rücken ruckte sie kurz hin und her, bis sie fest und sicher saß.

Halte dich fest!“ sprach der Hund.

Sie krallte sich in seine Nackenhaare.

Und los!“ rief er und sprintete davon.

Schnell rannte er durch den Wald, sprang über Steine, Büsche, Bäche und Wurzeln. Selten einmal sahen sie einen anderen Bewohner des Waldes, doch bald kamen sie an ihrem Ziel an.

Wir sind da“, sprach er.

Sie standen vor einem großen, verzierten Tor. Es war aus dunklem Holz und umstellt von zahlreichen Bäumen, die den Blick darauf verbargen, was hinter dem Tor liegen mochte. Auf ihm selber zeigten sich Bilder der Landschaften, die sie auf ihrem Weg durchquert hatte und Wesen, die sie gesehen hatte, doch auch noch zahlreiche andere, die ihr bisher unbekannt waren.

Der Bernhardiner kniete sich nieder, damit sie leichter absteigen konnte.

Hier muss ich dich nun verlassen. Ich wünsche dir auf deinem Weg noch viel Glück“, sprach er. Und machte sich ohne ein weiteres Wort wieder davon.

Sie sah ihm kurz nach. Als er im Dunkel in der Ferne verschwunden war, drehte sie sich um und sah sich erneut das Tor an. Sie erkannte das Bärchen und den Bernhardiner in den Verzierungen, doch nirgends einen Knauf, ein Schlüsselloch oder einen Klopfer. – Nichts, um das Tor zu öffnen. Sie schickte sich an, mit der Faust anzuklopfen, da öffnete sich das Tor plötzlich wie von alleine.

Eine gähnende, endlose, schwarze Dunkelheit erwartete sie.

Hallo?“ rief sie hinein, doch niemand antwortete.

Während sie noch überlegte, ob sie nun eintreten solle, huschte ein kleines, zierliches rotbraunes Eichhörnchen an ihr vorbei und verschwand im Dunkel hinter dem Tor.

Kenn ich dich nicht?“ murmelte sie verwirrt.

Warte!“ rief sie und eilte dem Tier hinterher.

Konnte sie sich anfangs noch im Dämmerlicht, dass von draußen durch das Tor hereindrang, den Gang entlang bewegen, so ging das nicht mehr, nachdem sich das Tor plötzlich geschlossen hatte. Doch der Gang leuchtete wie von selbst, glühte in einem schimmernden, grünlichem Licht. Die Wände schienen mit leuchtendem Moos bewachsen zu sein. In der Ferne vor sich sah sie das kleine Tier davonhuschen und ohne einen Blick zurück zu werfen, eilte sie ihm nach.

Der Gang knickte recht bald rechtwinklig ab nach Rechts, bald nach Links, so dann wieder Rechts und immer so fort und oftmals spaltete er sich auch in zwei oder drei weitere Gänge auf, doch ließ sie sich nicht beirren und folgte stets weiterhin dem kleinen Tier.

Endlich erreichten sie ein weiteres Tor. Das Eichhörnchen huschte durch ein kleines Loch neben dem Tor, zu eng für das Mädchen.

Doch dieses Tor hatte einen Knauf, ein Schlüsselloch sowie einen Klopfer. Letzteren benutzte sie, um brav anzuklopfen.

Wenn du meinst es tun zu müssen, trete ruhig ein“, ertönte eine Stimme von der anderen Seite des Tors.

Vorsichtig drehte sie am Knauf und zog am Tor. Leicht schwang es auf. Sie betrat einen runden Raum, der bis auf ein paar große Kissen am Boden vollkommen leer zu sein schien. Ein weiteres Tor befand sich auf der anderen Seite des Raumes.

Behutsam schloss sie das Tor hinter sich wieder.

Wenn du erschöpft bist, setze dich doch“, sprach es in ihrem Rücken.

Erschrocken drehte sie sich wieder dem Raum zu, wo nun auf den Kissen ein älterer Mann saß. Ein kurzer weißer Vollbart zierte sein Gesicht, seine weißen Haare waren kurz und er war in weite, weiße Gewänder gekleidet. Er lächelte freundlich und deutete auf die Kissen vor sich.

Sie setzte sich ihm gegenüber.

Wer sind sie?“ fragte sie.

Was glaubst du, wer ich bin?“

Sie kommen mir bekannt vor…“, murmelte sie.

Dann werde ich das wohl auch sein. Woher kennst du mich denn?“

Ich…ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wusste es einmal.“

Was führt dich zu mir?“

Sie deutete auf die Löcher neben beiden Türen.

Das kleine Tier – Ich bin ihm hierher gefolgt.“

Das Eichhörnchen? Warum bist du ihm denn gefolgt?“

Ein Gefühl…ich musste es tun…“

Woher kommst du?“

Ich weiß es nicht mehr“, sprach sie und blickte traurig drein.

Weißt du denn, wer du bist?“

Nein, aber ich sollte es wohl.“

Warum siehst du aus wie ein kleines Mädchen?“

Ja bin ich denn keins?“ entgegnete sie und runzelte verwirrt die Stirn.

Du bist, was du glaubst zu sein. Warst du schon immer ein Kind?“

Ich glaube schon…“

Ich glaube das nicht. Ich glaube, du fliehst nur vor etwas, vor dir. Gefällt es dir hier?“

Schon, aber… Ich will zurück…“

Zurück wohin?“

Ich weiß es nicht mehr“, sprach sie verzweifelt.

Warum bist du geflohen?“

Eine schwache Erinnerung kam in ihr auf.

Ich wollte allein sein…es ist alles zuviel. Ich bin müde.“

Was ist zuviel?“

Mein Leben…all die Aufgaben…all die Menschen, die etwas wollen…“

Und da fliehst du lieber?“

Hier habe ich keine Aufgaben…“

Was ist mit den Menschen, die dich lieben? Sie werden sich sorgen. Warum sprichst du nicht mit ihnen, ob sie dir helfen?“

Ich möchte machen, was ich will…“

Und sie würden das nicht verstehen? Dir nicht helfen?“

Vielleicht…“

Was stört dich?“

Es ist zuviel, zu anstrengend…“

Lohnt es sich nicht? Einfacher wirst du es nicht bekommen. Warum arbeitest du nicht mit dem, das du hast?“

Ich weiß es nicht…“

Vielleicht weißt du es doch. Gehe durch das Tor hinter mir“, sprach er und deutete auf ebendieses.

Und sie tat wie ihr geheißen.

Der nächste Raum hatte dieselbe Form wie der andere, doch war dieser hier reicher ausgestattet. Anstelle von Kissen gab es Liegen und einen Tisch, bedeckt mit Geschirr und Nahrung. Ein Kamin spendete Wärme. Pflanzen und Blumen bedeckten die Wände. Ein älterer Mann lag auf einer der Liegen, sein langes Haar und sein dichter krauser Vollbart bereits grau, gekleidet in ein graues Gewand. Er lächelte sie an und deute auf die Liege sich gegenüber.

Setz dich doch“, sprach er.

Und so tat sie.

Nimm dir etwas zu essen. Fühlst du dich wohl?“

Sie nahm ein paar Trauben, doch schüttelte sie den Kopf.

Was macht dir zu leiden?“

Mein Leben…“, seufzte sie.

Macht es dir keine Freude?“

Nun, manchmal. Nicht immer. Es sollte einfacher sein.“

Und manchmal sollte man unangenehme Dinge erdulden, um am Ende mehr Freude daran zu haben. Nimm doch ein paar Trauben“, sprach er und deutete auf diese, doch sie schüttelte den Kopf.

Nein danke. – Und es gibt zu viele unangenehme Dinge.“

Mach dir darüber doch nicht so viele Gedanken. Genieße die guten Dinge. Vergesse die schlechten. Denk immer an die Guten und schütze sie, freue dich an ihnen.“

Ich bin mir aber nicht sicher.“

Zweifle doch nicht soviel! Vertrau auf deine Freunde und die Menschen, die dich lieben. Verschließe dich ihnen nicht, sondern spreche mit ihnen, hab Vertrauen.“

Ich frage mich immer, ob es anders nicht besser wäre, einfacher, schöner.“

Sehn dich nicht nach anderem! Ist es ähnlich wie das, was du hast, dann ist es nutzlos. Denn einst hast du dich auch nach dem gesehnt was du nun bereits hast. Ehre es also entsprechend! Und vergesse nicht das, was du liebst, sonst wirst du es verlieren. Kümmere dich um sie, dann bringen sie dir mehr Freude.“

Das versuche ich ja…“

Versuche es nicht nur, tu es. Erfreu dich eines schönen Lebens, doch schade nicht anderen. Ziel deines Lebens ist die Freude. Doch gib dich nicht Gelüsten hin. Hab Freude am Frieden und deinen Freunden. Leb dein Leben, habe Spaß, und denke nicht so viel an den morgigen Tag.“

Nachdenklich nickte sie.

Und nun flieh nicht mehr. Gehe heim zu deinen Lieben. Erinnere dich wieder an dich selbst. Und an sie. Gehe zu ihnen.“

Plötzlich bemerkte sie das kleine Eichhörnchen, welches neben dem Ausgang des Raumes hockte. Überrascht stand sie auf.

Folge ihm!“ sprach der Mann.

Das Tor aus dem Raum öffnete sich und das Tier verschwand hindurch. Sie folgte ihm durch einen langen, dunklen Gang. Irgendwann war das Eichhörnchen ohne Vorwarnung verschwunden. Verwirrt stapfte sie weiter den Gang entlang.

Wach auf“, klang plötzlich eine Stimme dumpf aus dem Dunkel.

Was? Wer da?“ fragte sie und sah sich um, doch sah nur Schwärze.

Wach auf!“ erklang es erneut, lauter.

Zeig dich!“ rief sie und ging sich umsehend weiter.

Unvermittelt tauchte ein Lichtschein vor ihr auf. Sie hielt darauf zu.

Wach auf!“ ertönte es ein drittes Mal.

Sie meinte, das Eichhörnchen vor sich im Licht zu erkennen und folgte ihm, tauchte ein in das blendende Licht.

III

Jetzt wach schon auf!“

Sie öffnete die Augen und sah das Gesicht von B. vor sich.

Was? Wo bin ich?“ murmelte sie verschlafen.

Wir sind im Park“, antwortete er.

Langsam erkannte auch sie diesen Umstand. Sie lag an einen Baum gelehnt, nah eines dichten Gebüschs, durch das kein Mensch jemals würde kommen können.

Ich habe dich hier gefunden. Ich habe mir Sorgen gemacht“, ergänzte er und strich ihr über die Stirn.

Du sollst dich nicht so um mich sorgen“, sprach sie und stand auf, doch schwankte und musste von ihm gestützt werden.

Würde ich es nicht machen, wärst du mir egal“, erwiderte er.

Sie wollte etwas antworten, doch erinnerte sie sich an die alten Männer und was sie ihr gesagt hatten. So lächelte sie nur und umarmte ihn.

Lass uns zurückgehen“, sprach er und sie nickte.

Bald waren sie wieder daheim, wo E. sie erwartete.

Na endlich bist du wieder da, wir warten doch schon alle“, sprach er und verschwand in einem anderen Raum.

Komm mit“, ergänzte B. und nahm sie mit in diesen Raum, wo ihre Freunde sie erwarteten und bereits feierten.

Später war sie mit B. kurz allein.

Es tut mir leid, wie ich war“, sprach sie.

Er nahm sie in den Arm.

Ich weiß, wie du bist. Und ich bin immer für dich da. Wenn du Zeit für dich brauchst, bekommst du sie, und tue nie etwas, das du nicht willst.“

Danke“, sprach sie nur.

Du bist eines der wichtigsten Dinge auf dieser Welt für mich. Ich möchte nur, dass du glücklich wirst. Ich liebe dich.“

ENDE

Darsteller

Sie – Die Flüchtige

B. – Der Freund

E. – Der Mitbewohner

Der Lehrende – Ein Beliebiger

Mitlernende – Beliebige

Das Eichhörnchen – Es selbst

Das kleine Bärchen und das große Bärchen – In Rot und Grün

Die Einwohner des Gummilandes – Von sämtlichen Herstellern

Die Ratte – aussuchbar

Der Bernhardiner – Nun ratet doch mal

Der weise weiße alte Mann – S.

Der weise graue alte Mann – E.