Der Begriff Praxis

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1. Einleitung

Der Begriff Praxis wird allgemein verstanden als Gegenteil der Theorie. Wo diese bloßes Überlegen ist, zeigt sich die Praxis als ausführende Tat. Doch dies sagt noch nicht alles aus. Es gibt viele Formen von Praxis, wobei das Verhältnis zur Theorie oft unklar ist, vor allem, welches zuerst kommt.

Diese Arbeit möchte einige Positionen und Überlegungen zu dem Thema vorstellen. Die älteste Form von Praxis findet sich bei Platon. Über Aristoteles geht es dann weiter zu Kant zum Marxismus, der dem Begriff der Praxis erstmals eine genauere und abweichende Definition gab, und letztlich hin zu modernen Positionen.

2. Platon: besonnenes Vorgehen

Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) besprach in seinem frühen Dialog Charmides nicht direkt den Praxisbegriff, jedoch eine Tugend, die man als Vorstufe zur Praxis bezeichnen könnte, denn diese wird zum praktischen Handeln benötigt: die Besonnenheit.

Im Dialog befindet sich Sokrates im Gespräch mit Kritias und Charmides. Laut Sokrates wird die Seele geheilt durch ‚Besprechungen‘: Schöne Reden, die Besonnenheit entfachen, und damit auch den physischen Körper gesunden lassen.1 Aber was ist die Besonnenheit?

Charmides meint, Besonnenheit sei, wenn man alles sittsam und bedächtig verrichtet. Da wirft Sokrates die Frage ein, ob es nicht besser sei alles geschwind zu verrichten.2 Charmides ergänzt, dass die Besonnenheit die Menschen verschämt. An diesem Punkt bemerkt Sokrates, dass Scham sowohl gut als auch schlecht sein kann, die Besonnenheit dagegen nur gut ist.3

Nun übernimmt Kritias. Ihm zufolge ist Besonnenheit, das Seinige zu tun. Und Sokrates bemerkt, dass es eher darauf ankommt, ob etwas gut gesagt wurde und nicht, von wem es kommt. Es sei schwer zu erklären, was das Seinige tun überhaupt heißt.4 Kritias beruft sich auf Hesiod, demzufolge Verrichtungen keine Schande seien, wenn man etwas schönes und nützliches geschaffen hätte, was seiner Meinung nach Besonnenheit sei. Nur wer Gutes tut ist besonnen, wozu zählt, nur das zu tun, was sich gehört. Sich selbst zu kennen ist besonnen, also auch zu wissen, dass man besonnen ist. Besonnenheit sei Erkenntnis von sich selbst und allem anderen.5

Sokrates miemt ein letztes Mal den Spielverderber und spricht, dass alles nach etwas anderem strebt und nicht nach sich selber, so auch die Erkenntnis. Durch Besonnenheit erkenne man aber Kenntnis und Unkenntnis und somit auch das Gute.6

Zusammengefasst ist Besonnenheit ein ruhiges überlegtes Vorgehen und damit eine Vorstufe zur Praxis. Diese hat also noch mehr Seiten als bloß allein die Tat.

3. Aristoteles: vernünftiges Vorgehen

Platons Schüler Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), Lehrer Alexanders des Großen, stellte in seiner Nikomachischen Ethik vermutlich seinem Sohn Nikomachos eine Reihe von Tugenden vor, als Leitfaden ein guter Mensch zu werden, unter anderem auch die Vernunft mit ihren verwandten Formen.

Aristoteles eröffnet, dass der Vernünftige die Mitte durch rechte Einsicht sucht, wobei man sich aber weder zu sehr, noch zu wenig bemühen darf.7 Als nächstes definiert er die Verstandestugenden. Eine vernünftige Seele kann entweder veränderliche Dinge betrachtend und damit forschend sein, oder sie kann unveränderliche Dinge betrachtend und damit überlegend sein. Wahrheitserkenntnis und damit rechtes Handeln ergeben sich durch Wahrnehmung, Vernunft und Streben. Die Wahrnehmung muss korrekt sein, das Streben richtig, dann ergeben sich gute Willensentscheidungen, welche zur Wahrheit führen und Teil der praktischen Vernunft sind. Die theoretische Vernunft dagegen handelt nicht, sondern sieht nur gut und falsch.8 Eine Willensentscheidung ergibt sich durch eine strebende Vernunft bzw. einem vernünftigen Streben. Die Seele findet Wahrheit durch Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Geist9, die er im folgenden definiert.

Während Wissen nach Aristoteles nur lernbar ist, sei Wissenschaft lehrbar. Sie ist ein beweisendes Verfahren, das Allgemeines erfasst, bei dem wir aber noch nicht wissen, ob es auch wahr ist.10

Die Kunst ist ein mit richtiger Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten, aber noch kein Handeln, das aus Entstehen, Betrachten und Erproben besteht.11

Klugheit ist etwas, das betrachtet und das für sich Gute überlegt. Von der Wissenschaft unterscheidet sie, das jene Beweise braucht. Von der Kunst unterscheidet sie, das jene hervorbringt, derweil Klugheit handelt. Besonnenheit ist dabei eine besondere Tugend, denn sie bewahrt die Klugheit durch urteilen.12 Statt den Geist zu definieren baut Aristoteles die Klugheit weiter aus: Sie ist handelnd, überlegt richtig, bringt Erfahrung (nach langer Zeitdauer), bezieht sich auf den Einzelnen.13

Über Weisheit verfügen die begabtesten Künstler. Sie ist die genaueste der Wissenschaften und hat auch Geist. Sie ist geistiges Erfassen dessen, was der Natur des Menschen nach am ehrwürdigsten sei.14 Weisheit entsteht erst nach einer längeren Zeitspanne durch Erfahrung und bringt letztlich Glückseligkeit.15

Hiernach spricht Aristoteles noch über weitere Tugenden, die ebenso zur Vernunft und besonders zu Klugheit gehören:

Wohlberatenheit ist ein forschendes und berechnendes Planen, bei dem man langsam und lang überlegt, es dann aber rasch ausführt. Sie ist eine Art des Denkens und sieht die richtige Zuträglichkeit auf ein Ziel hin, das die Klugheit entdeckte.16

Verständigkeit beurteilt das, was die Klugheit überlegte und ist das Verstehen beim Lernen.17

Gewandtheit ist notwendig für die Klugheit, um ein Ziel zu erreichen.18

Er schließt damit, dass der Geist das Handeln verbessert und keine Tugend ohne Klugheit bestehen kann.19

Nun sahen wir also einige Formen der Klugheit, die man den Begriffen Theorie und Praxis zuweisen könnte.

4. Kant: Theorie und Praxis

Immanuel Kant (1742 – 1804) schrieb 1793 einen Artikel mit dem Titel ‚Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‘. Ziel war es, genau diese Redewendung zu überprüfen sowie das Verhältnis von Theorie und Praxis darzustellen, vor allem anhand seiner eigenen philosophischen Auffassungen, womit er auch einige Gegner widerlegen wollte. Zunächst definiert er die Begriffe, um dann über sie im Rahmen von Moral, Staatsrecht und Völkerrecht zu sprechen.

Theorie definiert er als allgemeine abstrahierte Regeln (Prinzipien). Der Verstand wandelt sie durch seine Urteilskraft um in Praxis, welche die Bewirkung eines Zwecks, die Befolgung von Prinzipien ist.20 Doch die Theorie kommt nicht zwangsweise vor der Praxis. Durch Erfahrungen und Experimente wird sie ergänzt. Ohne Theorie gibt es keine Praxis, umgekehrt jedoch ebenso wenig, womit er sich schon gegen die Redewendung ausspricht.21 Theorie befasst sich entweder mit Gegenständen der Anschauung oder mit vorgestellten Begriffen. Nur wenn diese Unsinn sind, taugt die Praxis wirklich nicht. Wenn man jedoch den Begriff der Pflicht hinzunimmt, soll das nicht passieren können. Deshalb möchte er im weiteren Theorie und Pflicht behandeln.22

Die Moral nennt er eine Wissenschaft, die lehrt, wie wir glückselig werden können. Die Pflicht schränkt diese Möglichkeit jedoch ein, denn durch sie sollen wir auf das Gut aller Menschen hinwirken, was er praktisch leben nennt.23 Es kommt also erst die Pflicht, dann kann man Glückseligkeit suchen. Sein (fast lebenslanger) Konkurrent Christian Garve (1742 – 1798) meinte im Bereich der Moral Kants Theorie beizupflichten, fände es aber nicht in der Praxis vor.24 Kant kann dazu nur einwenden, dass wir das wirkliche Vorhandensein einer solchen Praxis auch nicht messen oder erfahren können, sondern sie natürlich sei. Selbst in Situationen, wo viele eindeutig nicht so handeln wie die Pflicht es verlangt, sei es klar, dass wir doch pflichtbewusst (dem Gewissen nach) handeln, selbst bei Unrecht.25 Dies ist eine recht schwache Argumentation, die darauf setzt, dass der Mensch von Natur aus rücksichtsvoll ist. Das schlechte Gewissen jedoch wurde durch die Gesellschaft und seine Normen geformt.

Der Staat ist laut Kant eine Verbindung vieler zu einem gemeinsamen Zweck, in dem freie Menschen unter Zwangsgesetzen leben.26 Er definiert sich durch drei wichtige Begriffe: a) Freiheit. Jeder darf seine Glückseligkeit suchen wie er will, solange er nicht gegen andere handelt.27 b) Gleichheit. Jeder hat jedem gegenüber gleiche Zwangsrechte. In der Praxis findet sich zwar, dass viele durch Besitz ungleich sind, rein rechtlich sind sie aber auch praktisch gesehen gleich. Zur Gleichheit gehört aber auch, dass jeder jede Position im Staat durch Fleiß und nicht durch Erbe erreichen können muss, von wo man nur durch Verbrechen wieder hinunterfallen kann.28 c) Selbständigkeit. Da der Wille des gesamten Volkes Gesetze formt, muss der Wähler sein eigener Herr sein. Jeder darf nur sich selbst dienen und nur eine Stimme haben.29 Er folgert aus seinen Aufzählungen, dass der Gesellschaftsvertrag kein wirkliches Faktum ist, sondern nur eine Idee der Vernunft, eine Theorie, die aber aus realen Begebenheiten abstrahiert wurde. Die Idee des Gesellschaftsvertrages ergibt sich danach als neues Richtmaß für die Praxis.30

Im Völkerrecht fragt sich Kant, ob die Menschen besser oder schlechter werden. Laut Moses Mendelssohn (1729 – 1786) würde die Praxis zeigen, dass die Menschheit in ihrer Geschichte stete Rückschritte aufwies, während Kant der Ansicht ist, dass sie eigentlich besser wird.31 Nach ihm müssten wir auf unsere Nachfahren wirken und die Praxis würde zeigen, dass wir doch besser werden. Sein Argument ist, dass die Natur zwangsweise dazu führt, dass seine Theorie wie es sein sollte, zur Praxis wird.32

Bei Kant sahen wir vor allem, dass Theorie und Praxis eng miteinander verwoben sind und bekamen einige Formen dargestellt.

5. Marx und Marxismus: praktische Handlungen

In seinen ‚Thesen über Feuerbach‘33 (geschrieben 1845, publiziert 1888) nennt Karl Marx (1818 – 1883) die menschliche Tätigkeit eine praktische Tätigkeit. Praxis müsse die Wahrheit des Denkens (also die Theorie) beweisen. Sich ändernde Umstände sowie die menschliche Tätigkeit führen zu einer umwälzenden Praxis. Kritik ist theoretisch, jedoch praktisch umwälzend. Erst in der Praxis der Gesellschaft wird das Individuum.

Philipp W. Balsiger stellte in einem Online-Artikel eine kurze Replik der marxistischen Praxis-Geschichte dar.34 Nach ihm hätte Marx die Differenz zwischen Theorie und praktischer Umsetzung aufgezeigt, dabei aber auf die Praxis abgezielt. Marxismus sei tätiges Handeln mit Objekten der Welt. Der tätige Mensch stehe in einem Verhältnis zu diesen Objekten. Die marxistische Kritik sei eine Analyse der Wirklichkeit und ihrer Widersprüche und dem Aufzeigen sich daraus ergebender Konsequenzen. Nach A. Labriola in den 1890ern sei eine Philosophie der Praxis in den Dingen vorhanden, über die man philosophiert; Handlungen schaffen einen Kontext der nötig sei für einen praktischen Konsens. 1966 sei man in der DDR der Ansicht gewesen, dass Praxis nicht nur Arbeit ist und die Theorie nicht nur der politischen Praxis dient.35 Laut der Praxis-Gruppe in Jugoslawien sei eine Revolution eine Form von kreativem Schöpfertum, die zur Freiheit führt.

Das marxistische Wörterbuch definiert Praxis als Produktion und das gesellschaftliche Leben als praktisch, wobei die Praxis Arbeit sei. Praxis als politischer Klassenkampf ist aber nur formell Struktur eines produktiven Prozesses. Die Natur zwingt zur Produktion. Praxis ist bewusst und durchdacht. Klassenkampf ist Kraft in einem praktischen Bildungsprozess. Die Philosophie der Praxis ist praktisches Handeln, welches gesellschaftliche Verhältnisse ist, in denen der Mensch ein neues Bewusstsein entwickelt.36

1966 wurden Marxens Frühwerke neu herausgegeben, Grund genug für Helmut Seidel (*1929) einen Artikel zu veröffentlichen. Ihm zufolge seien neue Erkenntnisse für die Theorie nur relevant, wenn man sie auf das System bezieht und die Theorie ändert, da sonst der Bezug von Teilbereichen auf das Ganze verloren geht. Aus der Praxis müsse sich die Theorie bilden. Marx wollte ihm zufolge Lebensprozesse (Praxis) erkennen und so eine Begründung (Theorie) für das Handeln finden. Die Praxis kommt also vor der Theorie.37

In der nächsten Ausgabe der DZP gab es Erwiderungen, eine dabei von Guntolf Herzberg (*1940), der die Frage stellte: Wenn die Praxis zuerst käme – wie käme man dann zu ihr? Laut ihm erkannte sie Marx nur langsam, entwickelte erst eine Theorie und passte diese dann an. Praxis und Theorie kämen gleichzeitig bei der Erkenntnis, die Praxis ergänzt eine vorhandene Theorie. Er räumt ein, dass Philosophie von gesellschaftlicher Praxis käme, jedoch nicht von der Kategorie Praxis.38

6. Heidegger: Dasein im Handeln

Martin Heidegger (1889 – 1976) kam in seinem Werk ‚Sein und Zeit‘ auch an eine Stelle, die für die Praxisfrage relevant ist.

Nach ihm wird das Dasein durch die Welt bestimmt. Durch seine Arbeit begegnet der Handwerker den anderen Menschen. Das Subjekt bekommt Dasein durch das, was es tut und braucht. Doch auch ein Alleinsein ist bereits ein Dasein.39

Zur Hälfte folgt er also Marx, sagt jedoch, dass auch ohne gesellschaftliche Praxis der Mensch bereits ist.

7. Foucault: Macht und Praxis

Michel Foucault (1926 – 1984) stellte ja weniger eigene Philosophien direkt auf, sondern untersuchte vor allem meist gegebene Diskurse, also historische Entwicklungen und Verhältnisse. In seinem Essay ‚Governmentality‘ untersuchte er eben dieses: Regierung und Regierungskunst.

Laut ihm sei Machiavelli der Beginn. Er stellte eine praktische Anleitung für seinen Fürsten auf. Nach ihm versuchten andere Philosophen Theorien zu liefern, warum es anders sein müsste als von ihm beschrieben.40 La Mothe Le Vayer nahm die Ökonomie mit in die Theorie auf, welche im 18. Jahrhundert dann die Praxis formte. Laut La Perrière würden die Ziele der Regierung nicht durch Gesetze erreicht werden. Im 16. Jahrhundert war man der Ansicht, dass die Theorie aus der Praxis kommt und durch diese verändert wird, diese aber nur durch die Theorie überhaupt gehalten wird. Den Merkantilismus bezeichnet Foucault als erste wahre Praxis der Regierungskunst. Im 17. Jahrhundert dagegen käme die Theorie erst nach der Praxis, doch solle diese weiterhin stützen.41

Steven Hendley versuchte Foucault durch Sartre zu ‚ergänzen‘, um zu zeigen, dass Macht in einem sozialen Netz entsteht.42 Nach Foucault ist Praxis schon gegeben, doch er stellt sich die Frage, wie sie sich auf Macht begründet und wie ihr Verhältnis dazu ist.43 Dies will Hendley mit Sartre beantworten. Nach diesem ist Arbeit eine Praxis durch Bedürfnisse, und erst durch die Praxis wird ein etwas wirklich zu einem etwas. Die freie praktische Produktion eines Subjektes ist seine Ausübung von Macht.44

Im Grunde genommen hätte er also fast auch Marx heranziehen können.

8. Heller: Theorie und Praxis aus Bedürfnissen

Ágnes Heller (*1929) ist nun die erste in unserer Betrachtung, die eine klare Typologie von Theorie und Praxis aufstellte.

Heller sagt, dass Theorie und Praxis zu einer produktiven Gesellschaft gehören und erst ab einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt möglich sind. Die Arbeitsteilung führt dazu, dass die Intelligenz dazu benutzt wird, Theorien zu liefern. Diese gelangen wie andere Produkte auf den Markt und befinden sich dort in freier Konkurrenz; ihr Ziel ist es, Meinungen zu beeinflussen. Ihre Abnehmer sind Konsumenten, von denen einige eine Praxis wollen.45 Bis hierhin könnte man sagen, ihrer Meinung nach kommt die Theorie vor der Praxis. Ihr Ziel nun ist es, enge Definitionen des Praxisbegriffes zu finden, stets im Verhältnis zur Theorie. Die Typen ihrer Typologie unterscheiden sich durch ihre Ziele und Aktivitäten.46

a) Die partielle Reform: Sie reformiert Teilbereiche durch Fachkräfte, kommt vor einer formulierten Kritik und ist leicht manipulierbar.

b) Die allgemeine Reform: Sie will die Gesamtgesellschaft verändern, ist kritisch, wird nicht von Fachkräften vollzogen, ist Führer von gesellschaftlichen Massen.

c) Die politisch-revolutionäre Bewegung: Sie will die ganze Gesellschaft umwandeln, braucht dafür eine große Basis, während ihre Führung meist eine Minderheit ist.

d) Die umfassende gesellschaftliche Revolution: Sie will das Alltagsleben revolutionieren, hat dadurch eine wachsende Basis, entsteht durch ihre Praxis und ist nicht umkehrbar.47

Hiernach stellt sie eine Definition von Bedürfnissen auf. Ihr zufolge gäbe es keinerlei natürliche Bedürfnisse, alle werden erst im Kapitalismus geschaffen. Aufgabe der Theorie ist es deshalb, diese Bedürfnisse herauszufinden und anzusprechen, was wiederum erst in einer bürgerlichen Gesellschaft möglich ist. Erst wenn die Theorie auf den Markt gelangt sieht man, ob sie die richtigen Bedürfnisse anspricht. Dabei kann es passieren, dass sie ignoriert wird obwohl sie absolut passend ist, und ebenso, dass nur Teile von ihr übernommen werden.48

Jetzt sieht man also, dass die Theorie nach einem einmaligen Start sich der Praxis anpassen muss. Weiterhin analysiert sie danach noch, wie ihre Typen mit Bedürfnissen umgehen.

a) reagiert auf vorhandene unbewusste Bedürfnisse; b) ebenso, doch macht diese Bedürfnisse bewusst, c) spricht Leidenschaften an um die Bedürfnisse zu ändern und d) schafft gar neue Bedürfnisse.49

Sie schließt damit, dass der Sozialismus also neue Bedürfnisse schaffen muss, will er bestehen. Und ihr Ideal Theorie und Praxis betreffend lautet, dass die Gesellschaft die Theorie macht und diese aus den Erfahrungen der Alltagspraxis anpasst.50 Wieder wären wir also beim Marxismus.

9. Der Methodische Kulturalismus: Wissenschaft aus kultureller Praxis

Der Methodische Kulturalismus von Peter Janich (*1942) und anderen aus der sogenannten ‚Erlanger Schule‘ ist ein Kind des Methodischen Konstruktivismus. In einem Buch, das ersteren beschreiben soll, schrieb er zusammen mit Dirk Hartmann (*1964) die Einleitung. Deren Erklärungen zur Abgrenzung vom Methodischen Konstruktivismus soll uns hier nicht interessieren; vielmehr geht es weiter um die Praxis, die eine wichtige Grundlage dieses Systems darstellt.

Laut dem Kulturalismus verändert der handelnde Mensch die Welt durch seine Handlungen in einer Gesellschaft. Praxis ist lebensweltlich. Wissen ist das Verfügen über Mittel für verfolgte Zwecke und begründet sich auf den Handlungserfolg. Eine lehrbare Handlungstheorie ist Grundlage des Systems, bei dem Beobachten und Klären wichtig sind. Praxis ist Handeln und Reden und wird nach ihrem Erfolg beurteilt; Theorie ist ein Handlungsrezept und wird auf seine Leistungsfähigkeit hin beurteilt.51

Praxis ist regelmäßig und regelabgeleitet, verfolgt einen Zweck. Der Kulturalismus unterscheidet hier verschiedene Formen, die klassisch teilweise nicht wirklich als Praxis betrachtet wurden: a) eine technische Praxis stellt Grundlagen her, b) eine poietische stellt größere Zutaten her, c) eine technische im engeren Sinne nutzt das von a und b Hergestellte, d) eine politische erlässt Gesetze, e) eine soziopolitische findet Konfliktlösungen.52 Kultur ist hierbei etwas, das Praxen tradiert, die kommen und gehen. Einzelhandlungen werden hierbei stets als Teil einer Praxis aufgefasst und die Kulturkritik soll die Praxen beurteilen oder ändern.53

Die Wissenschaft sehen sie als Praxis an, welche eine oder mehrere andere Praxen durch ihre Theorien stützt oder kritisiert.54 Die Wissenschaftsphilosophie stützt die Wissenschaften. Sie beinhaltet auch Ethik, ist allgemein und besteht vor allem aus Handlungstheorie und Sprachphilosophie. Erstere unternimmt Experimente, zweitere kreiert eine Fachsprache. Wahrheit findet sich im Kulturalismus letztlich im Erfolg im Handeln.55

10. Stekeler-Weithofer: Praxisformen

Stekeler-Weithofer (*1952) versuchte in einem Artikel eine allgemeinere, ‚theoretische‘ Darstellung von Praxen und ihres Bereichs.

Ihm zufolge gibt es normative Richtigkeit nur in Praxisformen, wobei die Praxis hier zum Themenfeld der ‚Form‘ gehört und ein nominalisierender Operator ist.56 Versprechen-geben und -halten (sowie die Kritik bei einer Nichteinhaltung) sind z.B. Teile der Praxisform ‚Versprechen‘. Praxisformen seien ein Geflecht von Normen. Nur Menschen könnten frei an Praxisformen teilnehmen, sofern sie dazu kompetent sind. Zu einer rechten Teilnahme gehört nämlich auch das Verstehen. Die Praxisformen sieht er als Thema aller Kulturwissenschaften.57

Praxisformen bestehen aus der Teilnahme an individuellen Handlungsplanungen ebenso wie an gemeinsamen Handeln samt ihrem normativen Beurteilen. Auch das Erkennen erfolgt nur im Rahmen einer Praxisform. Kultur ist eine Form, die durch den sozialen Kontext gelernt wird und nicht nur bloße Nachahmung.58 Auch der Gebrauch von Sprache setzt die Beherrschung von Praxisformen voraus. Er schließt mit der Behauptung, dass Praxisformen (empirisch) und Wissen (begrifflich) gleichzeitig entstehen, also nicht eines vor dem anderen kommt.59

11. Schluss

Wir sahen in dieser Arbeit verschiedene Ansätze zum Thema Theorie und Praxis, die letztlich alle natürlich nur genau das sind: Theorie. Fragen wie die, was zuerst kam, lassen sich wohl kaum beantworten, doch wurden die Begriffe im Laufe der Zeit immer weiter spezifiziert. Bei Platon sollte man noch besonnen, also überlegt Handeln, was Aristoteles ähnlich durch die Vernunft ausdrückte. Laut Kant kämen Theorie und Praxis gleichzeitig, die Marxisten stritten sich dagegen eher darüber, was von beiden bei Marx zuerst kam. Foucault sah historisch eine Entwicklung vom Schwerpunkt der Praxis hin zur Theorie und letztlich wieder zur Praxis, während in modernen Zeiten Typologien aufgestellt wurden. Letztlich aber sind die Positionen weiterhin zerstritten, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei.

12. Literatur.

  • Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. München: dtv 1972, 2. Auflage
  • Balsiger, Philip W.: Marx – wiedergelesen. http://www.praxisphilosophie.de/balsmarx.pdf (abgerufen: 16.06.2009)
  • Foucault, Michel: Governmentality. In: ders.: Power. ed. By J. D. Faubion. New York 2000
  • Hartmann, Dirk / Janich, Peter: Methodischer Kulturalismus. In: Dies. (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus – zwischen Naturalismus und Postmoderne. Frankfurt 1996
  • Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1967, 11. Auflage
  • Heller, Ágnes: Theorie und Praxis: ihr Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen. In: Individuum und Praxis. Positionen der Budapester Schule. Frankfurt 1975
  • Hendley, Steven: Power, knowledge, and praxis: A Sartrean approach to a Foucaultian problem. In: Man and World 21 (1988)
  • Herzberg, Guntolf: Materialismus und Praxis. In: DZP 15 (1967)
  • Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Frankfurt: Vittorio Klostermann 1946
  • Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. MEW 3, S. 33ff. Berlin: Dietz.
  • Platon: Charmides. Berlin: Akademie Verlag 1985
  • Praxis. In: Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg.: G. Labica & G. Bensussan. Berlin 1987
  • Seidel, Helmut: Vom praktischen und theoretischen Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit. In: DZP 14 (1966)
  • Stekeler-Weithofer, Pirmin: Was ist eine Praxisform? In: Reutsch, Th. (Hrsg): Einheit der Vernunft? Paderborn 2005

1Vgl. Platon: Charmides. Berlin: Akademie Verlag 1985, S. 157.

2Vgl. ebd., S. 159.

3Vgl. ebd., S. 160f.

4Vgl. ebd., S. 161f.

5Vgl. ebd., S. 163ff.

6Vgl. ebd., 167ff.

7Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. München: dtv 1972, 2. Auflage, S. 181 (1138b).

8Vgl. ebd., S. 181ff (1138b f).

9Vgl. ebd., S. 183f (1139b).

10Vgl. ebd., S. 184 (1139b).

11Vgl. ebd., S. 185 (1140a).

12Vgl. ebd., S. 185ff (1140a f).

13Vgl. ebd., S. 189ff (1141b f).

14Vgl. ebd., S. 188f (1141a f).

15Vgl. ebd., S. 194ff (1143a ff)

16Vgl. ebd., S. 191ff (1142a ff)

17Vgl. ebd., S. 193f (1143a)

18Vgl. ebd., S. 197 (1144a)

19Vgl. ebd., S. 198 (1144a)

20Vgl. Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Frankfurt: Vittorio Klostermann 1946, S. 18.

21Vgl. ebd., S. 18f.

22Vgl. ebd., S. 19f.

23Vgl. ebd., S. 22f.

24Vgl. ebd., S. 28.

25Vgl. ebd., S. 29ff.

26Vgl. ebd., S. 34f.

27Vgl. ebd., S. 36.

28Vgl. ebd., S. 37ff. Dass dies in seiner Zeit nur schwer möglich und dadurch viele eben doch ungleich waren, muss wohl nicht erläutert werden.

29Vgl. ebd., S. 41f.

30Vgl. ebd., S. 43ff.

31Vgl. ebd., S. 55f.

32Vgl. ebd., S. 57ff.

33Vgl. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. MEW 3, S. 33ff. Berlin: Dietz.

34Vgl. Balsiger, Philip W.: Marx – wiedergelesen. http://www.praxisphilosophie.de/balsmarx.pdf (abgerufen: 16.06.2009)

35Dazu kommen wir unten noch.

36Vgl. Praxis. In: Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg.: G. Labica & G. Bensussan. Berlin 1987.

37Vgl. Seidel, Helmut: Vom praktischen und theoretischen Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit. In: DZP 14 (1966), S. 1178ff.

38Vgl. Herzberg, Guntolf: Materialismus und Praxis. In: DZP 15 (1967), S. 971ff.

39Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1967, 11. Auflage, S. 113ff.

40Vgl. Foucault, Michel: Governmentality. In: ders.: Power. ed. By J. D. Faubion. New York 2000, S. 204f.

41Vgl. ebd., S. 207ff.

42Vgl. Hendley, Steven: Power, knowledge, and praxis: A Sartrean approach to a Foucaultian problem. In: Man and World 21 (1988), S. 172.

43Vgl. ebd., S. 177f.

44Vgl. ebd., S. 178ff.

45Vgl. Heller, Ágnes: Theorie und Praxis: ihr Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen. In: Individuum und Praxis. Positionen der Budapester Schule. Frankfurt 1975, S. 11ff.

46Vgl. ebd., S. 14f.

47Vgl. ebd., S. 16ff.

48Vgl. ebd., S. 20ff.

49Vgl. ebd., S. 25f.

50Vgl. ebd., S. 30f.

51Vgl. Hartmann, Dirk / Janich, Peter: Methodischer Kulturalismus. In: Dies. (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus – zwischen Naturalismus und Postmoderne. Frankfurt 1996, S. 31ff.

52Vgl. ebd., S. 37f.

53Vgl. ebd., S. 38f.

54Vgl. ebd., S. 40.

55Vgl. ebd., S. 43ff.

56Vgl. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Was ist eine Praxisform? In: Reutsch, Th. (Hrsg): Einheit der Vernunft? Paderborn 2005, S. 181ff.

57Vgl. ebd., S. 188ff.

58Vgl. ebd., S. 196ff.

59Vgl. ebd., S. 199ff.

2 Responses to Der Begriff Praxis

  1. Nils Adolph sagt:

    Hij Kaltric
    Was ist denn mit dem Praxisbegriff von Hannah Arendt? Warum wird der denn nicht erwähnt? Ist der nicht wirklich wichtig? Wenn Du willst kann ich Dich ja mal ein paar Notzizen dazu schicken.

    Grüsse,
    Nils

    • kaltric sagt:

      Hi

      Ich konnte mich nur auf das Stützen, was in dem entsprechenden Seminar behandelt wurde, und da lag der Schwerpunkt (wie in dem ganzen Semester) halt auf dem Marxismus. Eine Ergänzung wär natürlich gut, aber es dürfte noch einiges fehlen, wenn man das komplett auflisten möchte….

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