Einen Sommer zuvor war es in den Landen Raréons noch friedlich und ruhig. Sein kleines Reich bestand aus Rardisonan, Aurost und den verbündeten Königreichen von Tobjochen im Süden, Emadé und Huálor im Westen. Raréon durchreiste diese vier sowie weitere, angrenzende Reiche, lernte viel Neues und auch viele Personen kennen und brachte den Bewohnern die Worte von Tól und Omé näher. Eines hellen Sommertages weilte er in der Burg Emadé, zu Gast bei Géri Anaruen und dessen Familie.
„Euer Land ist wahrlich schön“, meinte Raréon, als sie zusammen von einer Mauer aus das weite Sumpfland nördlich der Burg überblickten und das Land beobachteten, wie es lebte.
„Ja, das ist es“, erwiderte Anaruen, „und endlich frei von Iotor.“
Raréon stützte sich auf die Mauer und blickte nachdenklich drein.
„Aber ich habe gehört, dass Mharef sich hier irgendwohin in die Nähe geflüchtet hat.“
Anaruen nickte und deutete gen Süden.
„Das stimmt, er soll sich in Chobogi aufhalten. – Doch lasst uns von anderem sprechen. – Hattet ihr schon das Vergnügen, euch unser Land etwas genauer anzusehen, als nur von hier oben?“
Raréon musste verneinend den Kopf schütteln.
„Nein, tut mir Leid, ich bin direkt nach Emadé gekommen.“
Anaruen legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Dann müsst ihr das noch unbedingt nachholen.“
In dem Moment kam ein Diener durch die Tür aus der Burg auf die Mauer.
„Das Abendmahl ist angerichtet“, sprach er, ohne den beiden Anwesenden einen Blick zuzuwerfen.
Anaruen nickte ihm zu und wandte sich dann an Raréon.
„Lasst uns nun essen.“
Gemeinsam betraten sie die Burg, gingen zum Speisesaal und setzten sie sich an die Tafel, jeder an ein Ende. Bereits zu Tisch und ihnen zur Seite saßen Anaruens Frau, sein junger Sohn Camón und seine noch jüngere Tochter. Sie erwarteten sie.
„Wir haben noch einen Gast“, erklärte Anaruen, „eine entfernte Verwandte von mir aus dem schönen Fasia.“
„Sie ist wirklich reizend“, ergänzte seine Frau und sah Raréon mit leuchtenden Augen an, „sie wird euch sicherlich gefallen.“
Ihr verschwörerisches Lächeln tat das seine, um Raréon neugierig, aber auch nervös zu machen.
„Ah, da kommt sie ja“, sprach Anaruen und stand auf, um den Neuankömmling im Saal zu begrüßen.
Auch Raréon stand auf, doch vor allem, da er tief beeindruckt von ihr war. Selten hatte er eine schönere Frau gesehen.
„Raréon, dies ist Sedíra“, stellte Anaruen sie vor.
Raréon brachte kein Wort hervor, doch verbeugte er sich nach einigen Momenten vor ihr und sah ihr tief in die Augen. Sie erwiderte es mit einem warmen Lächeln. Das Essen ging ruhig von statten. Anaruen versuchte eine Unterhaltung mit Raréon, doch besprachen sie nur völlig belanglose Dinge, wie Raréon schnell fand, während er größtenteils Sedíra beobachtete und sich schnell in ihrem Anblick verlor. Sie lächelte ihm hin und wieder scheu zu, derweil sie mit Anaruens Frau plauderte und ihr Mann Raréon von den Problemen und der Geschichte seines Reiches zu erzählen versuchte. Nach dem Mahl begab es sich, dass Sedíra zur Mauer hinaus ging um das Land zu betrachten, wie Raréon und Anaruen zuvor. Raréon schlug denselben Weg ein, wie zufällig, und schlenderte zur Brüstung.
„Dies Land ist schön, findet ihr nicht?“ sprach er, während er sich zu ihr gesellte, den Blick dem offenen Land zugewandt.
Sie sah ihn mit weiten, schwarzen Augen an, überrascht von seinem Auftauchen, doch lächelte alsbald.
„Es ist mir irgendwie zu wild, zu wüst und zu gefährlich“, stellte sie fest.
Frech lächelnd lehnte er sich neben sie, an die Zinnen.
„Das ist doch das schöne daran“, sprach er und musterte sie.
Scheu strich sie sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht.
„Ich vermisse die ruhigen Wälder und schönen Auen von Fasia„, sagte sie dann plötzlich, voller Sehnsucht in der Stimme.
„Jedes Land hat seine eigene Schönheit“, lächelte er ihr zu. „Und auch jede Frau, doch aus Fasia scheinen die schönsten zu kommen.“
Sie blickte verlegen wieder zum Land heraus und schwieg.
„Wie kommt es eigentlich, dass ihr eure Wälder und Auen verlassen habt?“ erkundigte Raréon sich bei ihr.
Nun beschlich der Schatten der Traurigkeit ihr Gesicht.
„Manurc von Rees ist nach Fasia geflohen und wird immer noch geduldet. Mir hat seine Anwesenheit aber nichts Gutes gebracht.“
Raréon suchte nach einer Möglichkeit, sie aufzuheitern. Dann befiel ihn eine Idee, die er für fantastisch hielt.
„Kommt morgen früh mit mir, ich würde gern mit euch dieses Land genauer erkunden und genießen.“
Sedíra schien zu überlegen, doch lächelte sie wieder.
„Gerne doch“, sprach sie schließlich.
Da Raréon sich aber selber nicht in den Gebieten von Emadé auskannte, ließen sie sich Tags darauf von einem Diener Anaruens in die Sümpfe führen, zu den schönsten, geheimnisvollsten und ruhigsten Flecken der Sümpfe, Seen und Wäldchen.
„Dort vorne liegt einer der schönsten Plätze von ganz Emadé„, sprach der Diener und deutete voraus.
„Sehr gut“, erwiderte Raréon, „dann kannst du uns hier allein lassen, wir werden schon zurückfinden.“
„Herr?“ sprach der Diener überrascht.
Er blickte verständnislos, entsetzt und ängstlich. Sollte ihnen etwas zustoßen…
„Du hast mich schon richtig verstanden.“
„Aber Herr, der Herr Anaruen trug mir auf, bei euch zu bleiben. Es gibt überall versteckte Sumpflöcher und wilde Tiere und andere Gefahren…“, hilflos wedelte er mit den Armen.
„Keine Angst, wir werden schon auf uns aufpassen, uns wird nichts passieren“, beruhigte ihn Raréon.
Der Diener blickte besorgt zwischen Sedíra und Raréon hin und her. Schließlich erbarmte Sedíra sich seiner.
„Raréon, vielleicht ist es besser, wenn wir uns seiner Hilfe bedienen.“
Raréon seufzte, konnte er ihr doch nichts abschlagen. Er wandte sich an den nervösen Diener.
„Nun gut, dann komm heute Abend wieder und hol uns hier ab.“
Der Diener sah sich immer noch unsicher um.
„Herr, bleibt nur dort, wo ich es euch gezeigt habe. Rechts und links findet ihr nur Sumpflöcher. Solltet ihr in eines geraten, nutzt die Bäume und ihre Wurzeln. Und bleibt dabei ruhig!“
Und Raréon nickte nur: „Wir wissen das.“
Der Diener biss sich auf die Lippe und ergänzte noch: „Herr und Herrin, passt gut auf euch auf!“
Dann verabschiedete er sich und verschwand wieder im Sumpf.
Sobald sie alleine waren, fragte Sedíra: „Ob es eine gute Idee ist, hier ganz alleine zu sein?“
„Ich möchte diese Orte selbst erkunden, ohne dabei von jemanden geführt werden zu müssen“, erwiderte Raréon, und blickte zu der Stelle im Sumpf.
„Kommt ihr mit mir?“ sprach er, lächelte, und bot Sedíra seine Hand.
Seine Zuversicht und Begeisterung für das Abenteuer steckte an. Sie ergriff seine Hand, er führte sie voran. Er nahm einen Stock, um den Boden ihr zuliebe bei jedem Schritt auf seine Festigkeit zu überprüfen, wähnte sie sich doch in Gefahr, aber es sah alles normal und völlig unbedenklich aus. Raréon führte sie vorsichtig durch Büsche, dann erreichten sie den Platz: eine kleine Bucht an einem sonderbar klaren See, bevölkert von Vögeln und Schildkröten, umsäumt von bunten Blumen und Bäumen.
„Ihr hattet Recht, es ist wunderschön hier“, staunte Sedíra.
Sie verbrachten den gesamten Tag an dieser einen Stelle im Sumpf, wanderten die Bucht entlang, alles erkundend, und vor allem über alles redend: Über das Land, Fasia, Tól und Omé, Emadé, ihre bisherigen Leben und Erlebnisse und vieles mehr. Abends wurden sie abgeholt, der Diener war sichtlich erleichtert. Die nächsten Tage wanderten sie noch oft durch das Land und die Gärten Emadés, immer vertrauter mit Land aber auch den Gefahren werdend. Irgendwann kehrten sie zurück zu der Bucht im Sumpf. Sie saßen zusammen an den Ufern des Sees und beobachteten die Tiere.
„Wie einfach die Tiere es doch haben“, dachte Raréon laut.
Sedíra sah ihn an, an einem Grashalm spielend.
„Warum? Sie leben doch auch nur vor sich hin.“
Raréon blickte nachdenklich auf den See hinaus.
„Sie kennen keinen Krieg, kein Leid, verfehden sich nicht, verraten sich nicht und ahnen nichts von ihrem drohenden Ende.“
„Seit ihr euch da sicher? Dort hinten fängt ein Vogel gerade einen Fisch. Er zappelt und hat Angst vor seinem Tod“, sprach sie und deutete auf besagte Stelle im See.
Doch Raréon schüttelte den Kopf, ihrem Blick folgend.
„Er hat keine Angst; es liegt in seiner Natur, sich seines Lebens zu erwehren, die Natur war es, die ihm dies sagte.“
Sedíra sah Raréon musternd an.
„Sie kennen aber auch keine Liebe, keine Leidenschaft, keine Freude – meint ihr, dass das stimmt, meint ihr, das ist beneidenswert?“
Nun sah auch Raréon sie an.
„Glaubt ihr etwa, dass sie so lieben können wie wir?“
„Es gibt Tiere, die ihr Leben lang zusammen bleiben, sich umeinander kümmern und trauern, wenn der Partner gestorben ist.“
Raréon sah hinab zum See, wo eine Schildkröte grad an Land kroch.
„Dann sind dies vielleicht weiter entwickelte Tiere. Doch lieben sie sicher nicht so oder so stark wie wir – wie ich euch.“
Sedíra sah ihn erst überrascht an, blickte dann verlegen zu Boden.
„Oder ich euch“, antwortete sie ihm.
Raréon streckte die Hand zu ihr aus.
„Kommt mit mir“, forderte er, und sie willigte ein.
Wenige Tage noch blieben sie in Emadé, dann verabschiedeten sie sich gemeinsam von Géri Anaruen und seine Familie. Sie reisten zunächst zusammen nach Zínan, der Hauptstadt von Tobjochen, wo Dojolas Igíman sie bereits vor der dräuenden Gefahr aus dem Süden warnte. Raréon beriet sich mit ihm und sie kamen darin überein, eine eigene Feste am Nordende des Passes zu errichten. Über Aurost kamen Raréon und Sedíra nach Rardisonan, wo sie schließlich überwinterten und Raréon Pläne schmiedeten. Eines Abends fragte er sie.
„Sedíra, verwalte dieses Reich mit mir. Ich gebe dir Aurost.“
Sie befanden sich gerade alleine in einem gemütlich eingerichteten Arbeitszimmer des Hauptlagers, welches langsam zur Burg einer Siedlung werden sollte. Sedíra stand, ein Glas Wein in der Hand, am Kamin, wandte ihren Blick vom Fenster ihm zu und lächelte ihn an.
„Nein, aber ich danke dir.“
Als ein trauriger Schatten in Raréons Gesicht schlich, lächelte sie ihm verschwörerisch zu.
„Gib mir Chobogi, wohin sich Mharef geflüchtet hat. Vertreibe ihn aus dieser uralten Stadt der Juepen!“
Doch Raréon musste leider ablehnen: „Es tut mir Leid, doch Machey bedroht uns, ich kann nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen, nicht jetzt.“
Und sie nickte und sah wieder zum Fenster hinaus.
Dojolas Igíman kümmerte sich um den Bau der Feste im Süden, derweil Raréon Huálor und Emadé um Hilfe und Unterstützung bat und diese ihre Soldaten nach Rardisonan sandten. Am Ende des Winters fragte er sie erneut.
„Sedíra, du siehst traurig aus.“
Sie standen gerade in einem weiteren Raum des Lagers. Raréon saß an einem großen Tisch über Dokumenten gebeugt, Sedíra blickte wieder einmal aus dem offenen Fenster, auf die See hinaus. Sie antwortete ihm, ohne sich zu ihm umzudrehen.
„Ach Raréon, ich vermisse Fasia. Die Wälder, die Auen, die Flüsse, die Wiesen und Felder.“
„Warum reisen wir nicht im Frühjahr dorthin?“ bot er ihr an.
Nun blickte sie ihn kurz traurig an, mit deutlichem Schmerz in den Augen.
„Manurc, der vertriebene Herr von Rees, ist dorthin geflüchtet, wie einstmals die Adligen von Omijern nach Fasia flüchteten. Er ist zwar ein Gegner Macheys, doch wäre er deiner auch nicht wohl gesonnen. Er ist ein wahres Übel für das Volk von Fasia, wie es Mharef nun für Chobogi ist. Vertreibe Manurc bitte aus Fasia!“ drängte sie ihn.
Doch Raréon musste ihre leidenschaftliche Forderung bedauernd ablehnen. Mitfühlend sah er sie an.
„Fasia liegt zu weit weg von uns und wir hätten die ganze Zeit Chobogi und Mharef im Rücken. Eine Befreiung Fasias ist noch unmöglicher als die von Chobogi. Es tut mir Leid.“
Sedíra sah wieder zum Meer hinaus.
Im Frühjahr versuchte er sie aufzumuntern, indem sie eine Reise gen Osten antraten. Sie erreichten dort Omérian, welches Amant Emaior einst zu Ehren von Omé gegründet hatte. Amant Emaior begrüßte sie am Eingang seines eigenen Lagers.
„Raréon! Was führt dich zu mir?“ erkundigte er sich bei ihrer Ankunft und nahm Raréon fest in den Arm; doch seit ihrer ersten Begegnung hatte sich ihre Beziehung kaum verändert.
Emaior hatte seit ihrem letzten Zusammentreffen zahlreiche graue Strähnen in Bart und Haar bekommen, doch sah er weiterhin kräftig und gesund aus, immer noch der Alte.
„Amant, dies ist Sedíra“, stellte Raréon sie vor und deutete auf seine Begleiterin, die neben ihm stand.
Emaior sah sie anerkennend an, bevor er ihre Hand zum Kuss nahm und sich galant verbeugte.
„Wir kamen, dich zu besuchen“, führte Raréon fort.
„Ach, mehr nicht?“ entgegnete Emaior, zog eine Augenbraue hoch und zweifelte ganz offensichtlich, „doch besprechen wir deine Anliegen lieber später. Lasst euch erst von mir Omérian zeigen!“
„Sehr gerne doch“, antwortete Raréon, „doch lass uns erst unsere Sachen verstauen, wenn dies recht ist.“
„Natürlich! Ich lasse euch Zimmer geben.“
Und so taten sie. Später führte Emaior Raréon und Sedíra durch Burg Omérian, durch den Ort dieser zu Füßen sowie durch Teile des Landes. Doch die Stimmung blieb angespannt, hatten sie doch für Jahre nicht miteinander geredet.
„Was macht deine ehemalige Rechte Hand, dieser Machey?“ fragte Emaior später beim gemeinsamen Abendessen.
Sie saßen nur zu Dritt an der Tafel, war Emaior doch stets unverheiratet geblieben, da seine Liebe immer noch Omé galt, und auch schätzte er die Anwesenheit von speichelleckenden Lakaien und Adligen nicht. Der Diener Tóls verzog das Gesicht.
„Das ist nun der zweite Grund, warum wir hier sind. Er hat TuKarra und TuReesten an sich gerissen, wieder vereint und bedroht nun uns.“
Emaior nickte und nahm einen Schluck Wein.
„Das habe ich gehört. Doch was habe ich damit zu tun?“ fragte er ernst blickend.
„Wir sind beide die Diener von Tól und Omé. Lass nicht zu, dass unser Glaube untergeht; hilf uns!“ drängte Raréon ihn.
Doch Emaior schüttelte grimmig den Kopf.
„Du bist nur der Diener Tóls, ich nur der Omés. Du wirst in diesem Problem alleine da stehen. Ich selbst werde bereits von allen erdenklichen Seiten bedroht, doch von dir kam für mich in all diesen Jahren ebenso wenig irgendwelche Hilfe.“
Raréon blickt beschämt zur Seite.
„Verzeih mir“, sprach er, ohne Emaior anzusehen.
„Dafür ist es zu spät. Ich werde zu alt und versuche dieses Land unter allen Umständen zusammen zu halten. Dir aber viel Glück, alter Freund.“
Er hob seinen Kelch und trank einen langen Schluck auf Raréon. Dann wechselte er lieber das Thema.
„Doch was ist eigentlich der erste Grund, der euch zu mir führte?“
Raréon legte seine Hand auf die Sedíras, doch sah Emaior an.
„Sedíra aufzuheitern und ihr dein Reich zu zeigen.“
Emaior sah Sedíra musternd an, bevor er ihr aufmunternd zulächelte.
„Dann hoffe ich, dass es euch hier gefällt“, sprach er zu ihr.
Und natürlich gefiel es Sedíra in Omérian, wie es ihr bisher in jedem Reich gefallen hatte, in dem sie mit Raréon gewesen war. Doch bald wieder beschlich sie die alte Traurigkeit und Sehnsucht. Und eines Abends fragte Raréon sie dann zum letzten Mal.
„Sedíra, was ist mit dir?“
Sie befanden sich in einem Garten des Ortes Omérian, auf einer Terrasse am Berghang angelegt. Raréon hatte sich auf einen Felsen gesetzt, derweil Sedíra die Fische in einem Garten des Teiches betrachtete.
„Ach Raréon“, seufzte sie und sah ihn an, den Blick aber in die Ferne gerichtet, „ich habe es dir nie erzählt, doch ich stamme nicht wirklich aus Fasia.“
Raréon sah sie überrascht und verdutzt an.
„Von wo denn dann?“
Sedíra nahm ein Riedgras zur Hand und spielte abwesend damit.
„Ich stamme aus Omjúen, welches früher zu Omijern gehörte; genau wie es einst auch Fasia tat. Doch heute liegt es in den Bergen südlich von Tobjochen, noch auf dem Gebiet von Morgolt und ist leider nur über den Pass nach Karra erreichbar.“
Raréon runzelte bloß die Stirn und dachte kurz nach.
„Sehnst du dich nach deiner Heimat?“ fragte er sie schließlich.
Statt zu antworten fing Sedíra an zu weinen. Raréon gesellte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. Ein Entschluss reifte ihn ihm, während er sie tröstete und hielt, derweil sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Wenige Tage später erreichte ein Bote von Dojolas Igíman die Burg Omérian. Man hatte Truppenbewegungen am Pass nach Tukon bemerkt. Die Feste zur Absicherung des Landes sei bereits fertig und Igíman lies sie beziehen. Raréon und Sedíra reisten unverzüglich ebenfalls zu dieser, wo Igíman sie bereits erwartete.
„Raréon, endlich seid ihr da!“ begrüßte sie dieser und führte sie selbst in den Innenhof der Feste.
„Wie ist die Lage?“ erkundigte sich Raréon, derweil die Drei in der Feste standen, deren Mauern zwar stark und trotzend aufragten, dessen Inneres aber noch eine einzige große Baustelle darstellte.
„Wir erwarten einen baldigen Angriff über den Pass“, antwortete Igíman und sah Raréon ernst an.
„Ist die Festung denn bereits verteidigungsbereit?“ wollte dieser wissen, doch musste er sich bloß umsehen.
Igíman schüttelte denn auch bedauernd den Kopf. Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete er auf die Baustelle.
„Die Mauern sind zwar fertig, doch hier wird immer noch gebaut, wie ihr selber seht. Einer Belagerung könnten wir so unmöglich lange genug standhalten, wir waren nicht schnell genug“, sprach er.
„Habt ihr dann einen anderen Vorschlag?“ erkundigte sich Raréon, während sie die Festung umschritten und erkundeten.
Igíman nickte bedächtig und wählte seine Worte vorsichtig.
„Drüben im Pass gibt es eine alte, halb zerfallene, doch versteckte Burg, von wo aus wir ihnen in die Flanke fallen könnten, sobald sie hier anmarschieren. Die Burg ist kaum noch jemandem bekannt und auch nur schwer erreichbar. Ihre Kundschafter dürften sie nicht rechtzeitig entdecken können“, erklärte er ihnen.
„Dann machen wir es so„, beschloss Raréon. „Lasst alles vorbereiten. Wir müssen dies überleben.“
Igíman hatte bereits einen Plan ausgearbeitet und ließ ihn nun ausführen, derweil Raréon und Sedíra ihr Lager in der Festung bezogen. Der Plan von Igíman war einfach, doch vielversprechend. Zuvor aber wurden noch weitere Streitkräfte erwartet, ohne die es nicht zu schaffen sein würde. Aus Rardisonan, Emadé, Aurost, Huálor und Tobjochen zog man sie zusammen, unterstützt von Söldnern, die man in anderen Reichen angeheuert hatte. Als Machey dann schließlich angriff, zog er an der im Pass versteckten Burg vorbei, ohne sie bemerkt zu haben. Seine Armee stürmte aus dem Pass wie ein Schwarm Käfer und fiel über die Feste her. Doch dort war nur ein Teil von Raréons Leuten, wehrte Pfeilhagel und Sturmleitern ab. Der Rest fiel Macheys Leuten aus dem Pass in Rücken und Flanke, was für heillose Verwirrung und Panik in den Reihen der Tukonen sorgte. Als dann auch noch die Besatzung der Feste zurück schlug, war es aus für die Angreifer. Schnell schon musste Machey seinen Angriff aufgeben und sich zurückziehen, um nicht völlig aufgerieben zu werden. Und Raréon ließ ihn gehen, ließ niemanden verfolgen, ließ seine Leute feiern. Am Abend des Sieges stieg Raréon auf die Mauern der Feste. Er breitete die Arme aus, ließ alle zu sich aufsehen und sprach zu ihnen, während alles ihm zujubelte und ihn feierte.
„Völker des Nordens, Nachfahren der Juepen! Ihr habt heute einen wichtigen Sieg errungen, habt euch einer weiteren Versklavung durch ein fremdes Volk entzogen!“ verkündete er ihnen, und alles jubelte ihm zu.
„Diese Festung, auf der ich steh‘, wird zukünftig dabei helfen, dass dies so bleiben wird! Zur Feier unseres Sieges und meiner geplanten Vermählung mit meiner geliebten Sedíra, soll diese Festung fortan ihren Namen tragen! Dies ist die Festung Sedíra!“ rief er.
Und alles jubelte ihm zu. Danach wurde lange und ausgiebig gefeiert, alle waren ausgelassen. Nun aber stand Raréon vor dem Problem, wie er nach Omjúen kommen könne, für Sedíra. Entweder umging er die Berge gen Osten, doch wollte er keinen Ärger mit den dortigen Reichen, oder mitten durch den Pass und an Pegrott vorbei. Nach dem Sieg und unter Einfluss der unbegrenzten Zuversicht seiner Leute, alles und jeden schlagen zu können, kam er endlich zu der Einsicht, dass man die fliehenden Gegner doch hätte verfolgen und solange diese verängstigt und ungesammelt seien, Pegrott einnehmen sollen. Dies müsse man nun nachholen.
„Lasst uns ihre Festung einnehmen, solange sie noch ihre Wunden lecken!“ forderte Raréon leidenschaftlich, als er mit Igíman und seinen Offizieren zu Tisch saß, flankiert von dessen Soldaten.
Fast alle stimmten ihm sofort lautstark zu, nur Igíman saß still und nachdenklich da.
„Nicht nur sie haben zahlreiche Verluste erlitten, auch wir. Vielleicht sollten auch wir unsere Wunden lecken und erstmal für unsere eigene Sicherheit hier sorgen“, gab er zu bedenken.
„Nein, wir müssen ihnen den Gnadenstoß verpassen!“ widersprach ihm der General von Emadé, welches seit jeher Gegner Tobjochens gewesen und noch immer war.
Sie besprachen sich noch länger und teilweise gar hitzig, doch kamen sie letztlich darin überein, dass man doch handeln müsse, solange der Gegner noch geschwächt war. Tags darauf machten sie sich auf den Weg, doch sprach Raréon zuvor noch einmal zu seinen Leuten.
„Juepen der Nordlande!“ begrüßte er sie laut und durch das Tal hallend, „die Bewohner der Südlande haben es gewagt, euch anzugreifen, haben versucht, euch erneut zu versklaven, nachdem ihr Iotor gerade erst abgeschüttelt hattet. Nun ziehen wir gegen sie, folgen ihnen, um ihnen zu zeigen, dass man dies nicht ungestraft tun kann und darf!“
Und alle jubelten ihm zu.
„Und nun los!“ schrie Raréon.
Kriegsrufe antworteten ihm. Der Tross setzte sich bald darauf in Bewegung. Man musste dreimal in den Bergen übernachten, bevor man eine Position unfern Pegrotts einnahm. Am Morgen des dritten Tages nach dem Angriff auf die Feste Sedíra führte Raréon die Seinen gegen die Mauern von Pegrott. Machey war mit der Hälfte seiner Leute abgezogen, gen West, um einen Angriff von Manurc über den Pass von Fasia her gegen Rees zu vereiteln. Soumyl stand nun allein da, um Pegrott zu verteidigen, womit man niemals gerechnet hätte. Die ersten Angriffe konnte er zwar noch verhindern, so dass Raréon in Belagerung überging. Doch diese sollte Wochen andauern, ohne dass Soumyl um Hilfe schicken konnte, und ohne ausreichende Vorräte. Endlich musste er sich ergeben. Soumyl wurde von Raréon aber bloß fortgeschickt, während dieser in die Feste Pegrott einzog, umgeben von jubelnden Juepen.