GaAl09 Ulrichs Wünsche

Ulrich starrte in die Nacht. Hunderte glühender Augen starrten zurück. Seit fast einer Woche lagerten die Bauern bereits dort unten am Fuß des Hügels. Es schien, als wollten sie auf ewig verbleiben, wie die Ratten in den Straßen einer Stadt. Würzburg drüben am anderen Ufer gehörte bereits so gut wie ihnen, doch solange die Burg noch aushielt, gab es keinen Sieg für die Bauern. Ulrich hielt tapfer Nachtwache, während die Gedanken an eine Schlacht ihm Angst machten. Es war nicht lange her, dass er sein Dorf verlassen hatte um sich dem Markgrafen Friedrich anzuschließen, der nun diese Burg hielt. Kampf und Ruhm lockten Ulrich, doch jetzt schien es ihm, dass er gegen seine eigene Familie kämpfen müsste, und so ging es nicht wenigen auf der Burg. Ob dort unten, bei den Bauern, beim Schwarzen Haufen und dem Fränkischen Heer, wohl auch deren Anführer, Götz von Berlichingen sowie Florian Geyer, waren? – Gab es hier auf der Burg nicht auch einen Ritter der Familie Geyer? – Ging es diesem wohl ebenso wie Ulrich? Nachdenklich blickte dieser auf den Main herab. Eigentlich wollte er nur noch heim, eigentlich nur – für die Bauern kämpfen; ein Teil von ihm träumte gar zu fliehen und sich Thomas Müntzer anzuschließen. Aber er war, wo er war und der letzte Wagen zur Flucht war vor Tagen abgefahren – und lange könnten sie es dort nicht mehr aushalten.

Seine Gedanken stiegen auf – auf und davon.

Es war der Mai des Jahres 1525 und Ulrich wünschte sich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit.

Beim Mittagessen am nächsten Tag hing Ulrich bloß düster seinen Träumen nach, während seine Kameraden überlegten, ob Bischof Konrad kommen und sie alle retten würde. Irgendwann jedoch fiel Ulrichs bedrückte Stimmung auf. Es war sein Freund Dietrich, der ihn darauf ansprach. Beide hatten gänzlich andere Ansichten über den Krieg. Um nicht in einen Streit zu verfallen, musste Ulrich seine wahren Gefühle verbergen. Er schob stattdessen alles auf den Druck der Belagerung. Sie wussten nicht, wie lange Nahrung und Wasser noch reichen würden, doch waren sie immerhin ziemlich sicher, dass die Bauern die Mauern nie erklimmen könnten, trotz jeglicher Gerüchte, dass Florian Geyer nach Rothenburg abgereist war um Kanonen zu besorgen.

Letztlich geriet Ulrich aber doch noch in Streit mit Dietrich, als sie auf den inneren Mauern waren. Es ging um den niedersten Grund, den es hätte geben können: Die Frage nach der nächsten Wachreihenfolge. Dietrich versuchte Ulrich zu überreden, dass dieser doch noch einmal für ihn die Wache übernehmen möge, saß Ulrich doch eh lieber allein grübelnd im Dunkeln, während Dietrich meinte wegen einer Erkältung ruhen zu müssen. Ulrich jedoch fühlte sich beleidigt und sah seinen Freund als schlimmsten Vortäuscher falscher Tatsachen, weshalb er verneinte. Es kam zum Gerangel, wie er unsinniger unter erwachsenen Männern nicht sein könnte; hoch oben auf der Mauer der Burg, ein tiefer Abgrund neben ihnen. Letztlich verlor Ulrich den Halt und fiel mit den Armen rudernd hinab in das Gras am Fuße der Mauer. Auch in seinem Geist tat sich ein Abgrund auf.

Als er erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand – oder wer er war. Ersteres hätte er aber auch so nicht gewusst; alles sah so völlig unvertraut aus: Ein weiter dichter Wald erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen. Verwundert über den Schmerz in seinem Hinterkopf stand er vorsichtig auf. Zwar wusste er nicht, dass er an diesem Ort nicht sein sollte, doch beschlich ihn trotzdem ein Gefühl der Fremdartigkeit. Nachdem er festgestellt hatte, dass er stehen konnte – warum war da bloß dieses Gefühl eine Rüstung tragen zu müssen? – ging er langsam voran. Irgendwas musste er ja tun, und vielleicht fände sich eine Ansiedlung, in der man ihm helfen könnte zu sich zu finden.

Nach wenigen Schritten durch diesen unheimlichen Wald, in dem ihn hunderte Augen aus dem Dickicht zu beobachten schienen, kam er an einen Fluss. Breit und bedrohlich floss dieser mitten durch seinen Weg. Nirgends sah er auch nur die Spur einer Brücke, doch am anderen Ende erblickte er etwas, das eine Ansiedlung sein konnte. Während auf dem Fluss Enten angeschwommen kamen um ihn zu beobachten, suchte er das Ufer nach einer Möglichkeit der Überquerung ab.

Fahr doch einfach auf dem Blatt, kam es ihm da in den Sinn.

Blatt? Welches Blatt? Wie kam er denn auf diesen Gedanken? – Und da sah er es: Ein Blatt im Wasser, groß und kräftig genug ihn zu tragen, was er auch sogleich probierte. Tatsächlich. Und nun? Wie sollte er rudern? – Da löste sich das Blatt mit einem sanften Ruck vom Ufer und trieb hinaus auf den Fluss. Ulrich verspürte keine Angst, er wunderte sich bloß. Doch schon hatte er die Seltsamkeiten als nicht weiter ungewöhnlich angenommen, da trieb es ihn weiter auf das andere Ufer zu – und nicht wie vielleicht erwartet flussab. Auch die Enten gesellten sich zu ihm und begleiteten ihn wie eine Schar Ritter.

Als er so langsam weiter auf die Siedlung zukam, erkannte er mehr von ihr. Sie hatte keine Stadtmauern, sondern nur niedrige Hecken, obwohl sie groß wie eine Stadt war. In der Mitte entdeckte er ein hohes spitzes Gebäude, das eine Kirche sein musste; die anderen Häuser waren ein- bis zweistöckig. Sobald er noch näher war, erkannte er staunend, warum die Siedlung ihm so weiß vorkam: Sie war mit reinstem weißen Schnee bedeckt. Doch nur die Stadt war weiß; die Ufer hinter sowie vor Ulrich samt dem Land links und rechts der Siedlung waren frühlingsgrün. Mittlerweile war er noch näher gekommen, erkannte zahlreiche weiße Punkte auf dem Fluss vor der Siedlung und dass die Häuser allesamt bunt geschmückt waren, als gäbe es etwas großes zu feiern. Viele Menschen schlenderten durch den Ort und tummelten sich auf einem großen Platz, der vom Fluss bis zur Kirche reichte und auf welchem ein gewaltiger Tannenbaum stand, über und über festlichst geschmückt. Nur noch wenige Fuß vom Ufer entfernt erkannte er in den weißen Punkten auf dem Fluss Papierschiffchen, die so wie er ans Ufer getrieben wurden. Immer wenn eines von ihnen Land berührte, kam ein Bürger der Stadt, belud es mit Spielzeug, Geld oder Süßem und schickte es wieder auf die Reise.

Kurz vor Erreichen der Siedlung flogen die Enten plötzlich hoch – auf und davon.

Kaum hatte Ulrich schließlich selber Land erreicht, verließ er sein seltsames Gefährt und versuchte einen der Bürger zu fragen, wo er hier sei. Sie alle aber taten so, als verständen sie ihn nicht. Zwar begrüßten sie ihn freundlich, hängten ihm Blumen um, gaben ihm zu Essen und zu Trinken, doch sprachen sie kein Wort mit ihm. Etwas verzweifelt erkundete er auf eigene Faust den Ort und kam bald zu dem geschmückten Baum, an dessen Fuße Tauben eifrig nach Brotkrumen pickten. Als er sich fragte, was er nun tun sollte, durchzuckte ihn ein Gedanke.

Gehe in die Kirche!

Ja, warum war er nicht eher darauf gekommen? Dort würde man ihm helfen. Schnell trottete er in diese Richtung, während die Tauben ihm scheinbar neugierig wie graue Begleiter folgten. An den Toren des mächtigen und ebenso schön geschmücktem Gebäude angekommen, klopfte Ulrich brav. Lautlos öffneten sich ihm sofort die gewaltigen Torflügel. Etwas eingeschüchtert betrat er die Kirche und erschrak, als von allen Seiten Lieder ertönten. Sänger begrüßten ihn auf ihre Art. Und am Ende des Schiffes erkannte er eine Gestalt.

Draußen blieben die Tauben kurz stehen, um dann wegzufliegen – auf und davon.

Vorsichtig hielt Ulrich auf die Gestalt zu. Ein großer Mann mittleren Alters mit dünnem Schnurrbart im Bischofsmantel saß dort auf einem Stuhl vor dem Altar, als wäre es sein Schreibtisch. Brav stellte Ulrich sich vor und brachte sein Anliegen vor. Der Mann erklärte sich als der heilige Sankt Nikolaus; er hatte Ulrich bereits erwartet. Er klärte ihn über seine Vergangenheit auf und bot ihm feierlich an, entweder bei ihm im Weihnachtsland fern all des Elends bleiben zu dürfen – oder heimzukehren. Die Entscheidung fiel Ulrich nicht leicht, doch sein Ehrgefühl war zu groß – seine Familie könnte er nicht alleine lassen.

Kaum war seine Entscheidung getroffen, da wurde ihm schwarz vor Augen – doch ein Teil fühlte sich, als flöge er auf und davon.

 

Als Ulrich erwachte, lag er auf seinem Lager in der Burg. Dietrich hatte bei ihm gewacht und entschuldigte sich nun tausendfach bei ihm für sein Verhalten. Ulrich sprach ihm zu, dass alles nicht so schlimm sei. Er wusste nun, dass sie alle gerettet werden würden.

Es dauerte nicht mehr lange, dann wagten die Bauern einen Angriff. Doch zu dieser Zeit tauchte plötzlich ein anderes Heer auf, fiel ihnen in den Rücken und schlug sie vernichtend. Als der Anführer dieser Männer in die Burg einritt, erkannte Ulrich ihn sofort. Zwar stellte er sich als Bischof Konrad vor, doch für Ulrich blieb er auf ewig der Nikolaus.

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